1224 - Das Herz der Hexe
Turnschuhe mit den weichen, aber auch rauen Sohlen angezogen zu haben, denn so hielt sich das Abrutschen in Grenzen. Sie hatte zudem ihre feuchten Hände zuvor trocken gerieben, was ihr zugute kam.
Sie konnte nachfassen, sie drehte auch ihre Beine um das Gestänge und kam immer höher, bis sie die Spitze und damit die schwierigste Stelle erreichte.
Die Gitterstäbe sahen aus wie Lanzen, deren Enden als Pfeile in die Höhe wiesen. Sie waren verstaubt und verrostet und konnten in den Körpern der Menschen böse Wunden hinterlassen.
Amy suchte Zwischenräume, in die sie sich hineindrücken konnte. Leider waren sie zu schmal, und so musste sie sich über die spitzen Pfeile schwingen.
Auch das brachte sie fertig. Was sie sich früher nicht getraut hätte, ging ihr jetzt sogar recht locker von der Hand, und an der gegenüberliegenden Seite riskierte sie den Sprung in die Tiefe.
Wieder kam sie gut auf. Hart, aber sie hatte sich weder etwas verstaucht noch gebrochen. Auf allen Vieren blieb sie hocken, die Hände gegen den Boden gestemmt, und lauschte zurück.
Sie wusste nicht, was geschah und welcher Alarm ausgelöst wurde, wenn man die Tote entdeckte, doch das war noch nicht der Fall. Es blieb alles eingefangen in dieser nächtlichen Stille, und Amy atmete auf.
Es hatte so gut geklappt. Sie war weg aus der Klinik. Jetzt lag das neue Leben wie eine breite Straße vor ihr. Es würde völlig anders sein, das wusste Amy genau, und sie würde sich auch einen neuen Ort aussuchen, um die andere Zukunft zu beginnen.
Zunächst mal musste sie aus der unmittelbaren Umgebung der Klinik weg. Hier würde zuerst gesucht werden, um die Suche dann später auszuweiten.
Also weg!
Amy warf keinen Blick mehr zurück. Sie wollte den Weg entlanglaufen, um die Straße zu erreichen, die zwar recht einsam lag, aber auch in der Nacht befahren war.
Alles kein Problem für sie. Zusätzlich spürte sie in ihrem Kopf den Antrieb. Hervorgerufen durch die anderen Gedanken der Person, die in einem so engen Kontakt mit ihr stand.
Amy wusste nicht, wer diese Person war. Sie kannte ihren Namen nicht, aber sie hatte ihr Herz bekommen. Ein Spenderherz, und jetzt war sie sicherlich tot.
Tot…?
Wenn ja, wie konnte sie dann Kontakt aufnehmen und sie beobachten? Als Geist vielleicht, der immer unsichtbar in ihrer Nähe schwebte und sie genau beobachtete?
Das war alles möglich, auch wenn sie es nicht verstand.
Jedenfalls hatte die andere Seite sie in ein Spiel mit hineingezogen, das Amy gern annahm.
Amy genoss es, mit langen Schritten durch die Nacht zu laufen. Wie lange hatte sie das vermisst! Diese für sie herrliche Welt, die jetzt so etwas Wunderbares war. Eine Welt der Schatten, die ihr trotzdem heiter und leicht vorkam. In der sie endlich befreit lächeln konnte und in der es nicht mehr den verdammten Druck gab.
Hinter ihr war alles ruhig. Es wurde kein offener Alarm gegeben, und als sie die Straße erreichte, hatte sie die Klinik fast schon vergessen. Vor ihr lag ein neues Ziel, aber Amy wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.
Am Straßenrand fand sie einen hohen Stein, auf den sie sich setzte. Sie blieb zunächst dort hocken und wischte durch das schweißnasse Gesicht. Die Luft stand. Dabei bewegte sich einfach nichts. Kein Blatt zitterte an den Büschen. Es schien wirklich eine schwere Last auf der Natur zu liegen.
In der Ferne sah sie Lichter. Es waren die am nächsten liegenden kleinen Orte, und weit im Osten war der Himmel etwas heller als in den anderen Himmelsrichtungen. Genau dort lag der Millionen-Moloch London. Es war eine Stadt, die nie schlief und auch während der Nacht nicht richtig dunkel wurde.
Deshalb schickten die Lichter auch ihren Widerschein in die Dunkelheit hinein.
Sie hatte diese Stadt geliebt. Jetzt aber war sie ihr gleichgü ltig, weil ein neues Ziel vor ihr lag. Nur wollte sie wissen, wohin sie sich wenden musste. Ausgerechnet jetzt meldete sich die Stimme nicht. Da ha tte sich die tote Spenderin tief in das Jenseits zurückgezogen.
Tote Spenderin?
Der Gedanke musste zwangsläufig kommen. Nur wusste Amy jetzt nicht, ob sie sich mit ihm anfreunden sollte. Obwohl kein Beweis vorlag, hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass etwas völlig Irrationales und anderes passiert war. Vielleicht auch etwas Einmaliges auf dieser Welt, und sie war darin integriert.
Amy Madson fühlte sich allein, aber nicht allein gelassen. Sie stellte sich einfach vor, dass ständig ein Schutzengel an ihrer Seite stand, der über sie
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