1224 - Das Herz der Hexe
Jetzt wurde sie bei ihrem Anblick an eine Person erinnert, die sie als Kind mal in einem Märchenbuch gesehen hatte. Da war ein menschliches Wesen abgebildet gewesen, das lange Zeit in einem finsteren Wald gelebt hatte und im Märchen als eine Elfe bezeichnet worden war.
»Kenia…?«
»Wer sonst?«
»Ja, natürlich, wer sonst…?«
»Du hast mich so nicht erwartet, nehme ich an.«
»Genau. Damit habe ich nicht gerechnet. Ehrlich nicht. Es ist alles anders, als ich es mir vorgestellt habe, und ich frage mich, ob so die Toten aussehen.«
»Bin ich denn tot?«
»Das musst du sein, falls du nicht gelogen hast.«
»Aber ich lebe. Ich bin so wie ich bin. Das… das musst du begreifen. Ich bin eine Hexe. Ich habe dir mein Herz gegeben, und deshalb bist du mir etwas schuldig.«
»Was denn?«, brach es spontan aus Amy hervor.
»Ich brauche dich. Ja, ich brauche dich. Deshalb möchte ich dich immer in meiner Nähe haben.«
»Ah ja, so ist das«, flüsterte Amy. »Dann verlangst du also, dass ich mit dir gehe?«
»Genau das.«
Amy räusperte sich, dann schluckte sie. »Wohin soll ich denn mit dir gehen?«
»Einfach nur zu mir.«
»Und wo ist das?«
»Du wirst es erleben. Außerdem bist du eine Mörderin, Amy.« Sie breitete die Arme aus. »Wohin willst du denn gehen? Du kannst dich nicht mehr normal verstecken. Man wird dich suchen, man wird dich finden, denn die Polizei ist nicht so schlecht, wie man sie manchmal macht. Also brauchst du ein sicheres Versteck, und nur ich kann dir das geben. Und zwar eines, in dem dich niemand findet.«
Amy Madson suchte nach einer Antwort. Sie wollte Gegena rgumente vorbringen, das war sie gewohnt. Nur schaffte sie es nicht. Die herzlose Hexe hatte ihr alle Trümpfe vorweggenommen, und Amy zuckte ratlos mit den Schultern. Kenia verstand die Geste richtig.
»Hast du es jetzt eingesehen?«, erkundigte sie sich.
»Ja, das habe ich. Das musste wohl auch so sein.«
»Dann komm.«
Wie eine besorgte Amme streckte Kenia der noch unsicheren Amy Madson beide Hände entgegen.
Und Amy ging.
Sie überquerte die Straße und wusste, dass sie sich mit jedem Schritt einem neuen Leben näherte, wobei sie sich schon jetzt fragte, ob sie tatsächlich das große Los gezogen hatte und nicht zu einem Spielball finsterer Mächte geworden war…
***
Die herzlose Hexe, der Name Kenia und der Begriff Moons ide. Drei Informationen oder Puzzleteile, die uns van Akkeren hatte zukommen lassen, und die wir zusammensetzen mussten.
War es tatsächlich van Akkeren gewesen, der uns die Nachricht geschickt hatte?
Ich stimmte dafür, obwohl ich keinen hundertprozentigen Beweis hatte. Was van Akkeren allerdings damit bezweckte, stand für uns in den Sternen. Es konnte gut möglich sein, dass er uns beschäftigt sehen wollte, um für seine eigenen Pläne freie Bahn zu haben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Dämon versuchte, uns vor seinen Karren zu spannen. Das kannten wir schon von anderen.
Wichtig war auch Lady Sarahs Information gewesen, denn durch sie wussten wir, wie wir fahren mussten. Weit lag der Ort nicht entfernt, am Rand von London, noch etwas südwestlicher als Wimbledon. Er war auch nicht offiziell eingezeichnet oder vermerkt. Moonside musste mehr ein Insidertipp für ungewöhnliche Personen sein. Dazu konnte man auch die Personen zählen, die sich als Hexen bezeichneten und dabei nach ihren eigenen Regeln lebten.
Auch mit ihnen hatten wir unsere Erfahrungen sammeln können und festgestellt, dass nicht alle so genannten Hexen schlecht waren. Es gab da sehr wohl große Unterschiede.
Die letzte Hexe allerdings, mit der ich es zu tun bekommen hatte, die hatte schon in die Kategorie gefährlich und me nschenverachtend gehört. Der Fall lag noch nicht lange zurück und hatte mich - zusammen mit Harry Stahl - nach Deutschland, in den Schwarzwald, geführt.
Man konnte Moonside in einem Gebiet finden, das zwar nicht vom Wasser beherrscht wurde, in dem es jedoch fast allgege nwärtig war. Kleine Seen, künstlich angelegte Wasserreservoire, und das alles übertroffen von der allgegenwärtigen Themse, zu der auch die Auen oder Überschwemmungsgebiete zählten, in deren Umgebung Moonside seinen Platz gefunden hatte.
Es war für englische Verhältnisse schon lange sehr warm, und so würden wir von Überschwemmungen nichts mehr sehen.
Die Auen lagen frei, sie gehörten jetzt wieder den Menschen und auch den Mücken, denn bei den zahlreichen stehenden Gewässern war diese Gegend für
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