1225 - Die Reliquie
schwarze schlangenähnliche Fische, nur viel dicker als Schlangen, die im tiefen Schlamm am Grund hausten, wenn sie besonders hungrig waren, holten sie sich sogar Menschen, die es trotz der Warnungen wagten, sich auf den See zu begeben.
Sinclair und Suko waren getaucht und auch jetzt nicht wieder aufgetaucht. Tessa wusste nicht, wie lange der Sauerstoff in den Flaschen noch hielt, aber eine Ewigkeit bestimmt nicht. Sie rechnete damit, dass sie schon bald wieder erscheinen würden.
Eine Kirche im See!
Davon konnte sie ihre Gedanken einfach nicht lösen. Jeder wusste es, dass sich dort eine kleine Kirche befand, aber niemand traute sich, zu tauchen. Keiner sollte die Kirche sehen, sie sollte immer ein Geheimnis bleiben, ein Rätsel, über das man gern sprach, ohne es lösen zu wollen.
Eine alte Frau hatte mal behauptet, dass das Ende der Welt gekommen war, wenn die Kirche wieder auftauchte oder von Menschen entweiht wurde. Das glaubte Tessa Long zwar nicht, aber komisch war ihr schon, und auch jetzt rann ihr ein kühler Schauer über den Rücken, obwohl noch nichts passiert war.
Hin und wieder wischte sie über das schweißfeuchte Gesicht, auch um die verdammten Mücken zu vertreiben, die in ihr ein Ziel gefunden hatten. Die Plage war hier schlimm, besonders bei Einbruch der Dunkelheit. Sie war zwar noch einige Zeit entfernt, aber schon jetzt sah es so aus, als wäre sie im Werden, denn die Sonne hielt sich versteckt hinter einer bleigrauen Wolkendecke.
Gerüche umwehten sie. Es roch nach feuchtem Gras, nach leicht, verfaulten Blättern und brakigem Wasser. So sehr sie sich auch anstrengte, Tessa sah die Kirche nicht. Sie hatte darauf gesetzt, zumindest einen Schatten zu erkennen, doch auch das war nicht möglich. Loch Knockbain gab sein Geheimnis nicht preis.
Etwas störte die Ruhe.
Tessa schüttelte leicht den Kopf, weil es ihr nicht gelang, das Geräusch einzuordnen. Es war in ihrer Nähe erklungen, aber es hatte nichts mit dem Wasser zu tun. Das lag nach wie vor ruhig und glatt wie ein Spiegel vor ihr.
Woher war der Laut gekommen?
Es raschelte wieder.
Jetzt wusste sie Bescheid. Hinter ihr war es ertönt, und es hörte sich auch nicht schlimm, sondern völlig normal an. Da raschelten Blätter über Blätter hinweg. Tessa war davon überzeugt, dass es kein Tier war, das sich ihr näherte. Angespannt drehte sie sich um.
Der Mann stand da und bewegte sich nicht. Er sah düster aus, was an seiner schwarzen Kleidung lag.
»Hallo, Tessa«, sagte er nur…
***
Tessa Long zitterte plötzlich, und sie wusste auch nicht, weshalb sie ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl sie einfach nur hier am Ufer saß und auf das ruhige Wasser schaute. Aber sie hatte es, und ihr Herz schlug schneller.
Den Mann kannte sie. Er hieß Ian Caine. Er lebte in Knockbain und war so etwas wie ein Geistlicher. Nein, kein Pastor und auch kein Pfarrer. Er bezeichnete sich selbst als Prediger, der von Gott geschickt worden war und seine Botschaft in die Welt brachte.
Die Welt bestand für ihn nicht nur aus Knockbain. Einige Male im Jahr verließ er den Ort, um irgendwo im Land seine Botschaften loszuwerden. Zu welcher Religionsgemeinschaft er gehörte, wusste im Ort so gut wie keiner. Man machte sich schon seine Gedanken, aber man fragte ihn nicht, obwohl er nicht einsam lebte und schon recht kommunikativ war, doch über ein bestimmtes Thema wurde nie gesprochen.
Angst direkt hatte man nicht vor ihm. Wohl mehr Respekt oder eine leichte Furcht, die auch Tessa nicht verbergen konnte, als sie den Mann zwischen den Uferbüschen stehen sah, der ihr aufgrund seiner Haltung und des etwas erhöhtem Gelände noch größer vorkam als normal.
Er hatte sie angesprochen und wartete nun darauf, dass sie etwas sagte. Tessa wollte nicht mehr sitzen bleiben und sich so klein vorkommen. Sie stand langsam auf und schaute Ian Caine ins Gesicht, in das der Schatten der Hutkrempe fiel.
Sie kannte sein ausdrucksloses Gesicht mit den schmalen Lippen und der gekrümmten Nase. Seine Ohren waren sehr lang. Darüber hatten sich oft die Kinder amüsiert, aber ihn selbst niemals darauf angesprochen.
Verlegen wischte Tessa sich die Handflächen am Stoff der Hose ab. »Hi, Ian. Auch unterwegs?«
»Ja.«
Tessa kam sich komisch vor. Über ihre letzte Frage hatte sie sich geärgert, aber etwas anderes war ihr einfach nicht eingefallen. Zudem glaubte sie, dass man ihr das schlechte Gewissen oder die Verlegenheit am Gesicht ablesen konnte.
»Warum bist du hier,
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