1225 - Die Reliquie
Tessa?«
Sie drehte den Kopf und zeigte ein schwaches Lächeln. »In meinem Haus habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Es ist so einsam, weißt du. Alles tote Hose. Auch die Firma schickt mir nichts für die Heimarbeit. Ferienzeit eben. Und von hier kann ich über den See schauen, was mir immer noch gefällt.«
»Ja, das stimmt. Es ist ein guter Platz. Ich kenne ihn. Ich gehe fast jeden Tag um den See, damit ich seine besondere Atmosphäre aufnehmen kann. Dabei sieht man viel, was den Augen der anderen Menschen zumeist verborgen bleibt.«
Tessa wusste nicht, was sie von dieser Antwort halten sollte.
War sie eine Drohung? Wusste er mehr, als er zugeben wollte?
Kannte er womöglich das Geheimnis des Sees, was den anderen Bewohnern in Knockbain unbekannt war?
Es konnte alles zutreffen. Caine selbst gab selten etwas zu. Er war einfach zu verschlossen und sprach nur, wenn er sprechen wollte, bei seinen Predigten zum Beispiel. Aber er war auch jemand, der möglicherweise Bescheid wusste, die Geheimnisse allerdings lieber für sich behielt.
Er kam jetzt näher. Tessa stellte fest, dass er hohe schwarze Schuhe trug. Mit den dicken Sohlen zertrampelte er Gräser und hinterließ im weichen Boden seine Fußspuren.
Als er links neben Tessa stehen blieb, sagte er nichts, sondern schaute nur über den See hinweg. Auch wenn er kein Wort sprach, so hatte Tessa zumindest das unbestimmte Gefühl, dass er mehr wusste, aber es für sich behielt. Sie war gespannt auf seine ersten Worte und fast enttäuscht, weil sie so normal klangen.
»Es ist sehr ruhig hier, nicht?«
»Ja, das stimmt. Eigentlich wie immer.«
»Meinst du?«
»Klar.«
»Dein Gast ist auch weg - oder?«
»Ja, er wollte nicht mehr länger bleiben.«
Ian Caine lachte trocken. »Hat es ihm hier nicht gefallen? Ist ihm die Einsamkeit auf die Nerven gegangen?«
Achtung!, warnte sie die innere Stimme. Gib genau Acht; was du sagst. »Davon weiß ich nichts. Er hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt, Ian. Er war sowieso ein Einzelgänger. Da kann man nichts machen. Der hat sich in sich selbst vergraben.«
»War er nicht öfter hier am See?«
»Bestimmt. Wäre auch unnatürlich, wenn es anders gewesen wäre. Der kleine See ist doch die Attraktion. Zumindest für Fremde.«
Caine nickte. »Ja, Fremde. Für sie soll das hier auch fremd bleiben, denke ich.«
»Äh - wie meinst du das?«
»Fremde sollten sich nicht um unsere Angelegenheiten kümmern und auch von Einheimischen keine Hilfe bekommen.«
Er hatte den Satz so leicht dahin gesagt, aber Tessa spürte, wie er gemeint worden war. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihr das Blut in den Kopf stieg und sie schwerer atmete.
Sie ahnte es nicht nur, sie war jetzt überzeugt, dass Caine mehr wusste, als er zugab.
»Tun diese Fremden das denn?«
Caine schüttelte den Kopf. »In der Regel nicht. Nur wenn ihnen jemand hilft und sie mit Informationen versorgt. Dann werden sie sehr neugierig.«
»Hast du eine bestimmte Person in Verdacht?«
»Gäbe es denn eine?«
Tessa senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich für meinen Teil sitze hier und beobachtete das Wasser. Dessen Ruhe greift auch auf mich über, was ich toll finde.«
»Ja, ja, du gehörst zu uns.«
»Das weiß ich.«
Caine streckte seine Hand aus und deutete nach links. »Die Jacken, die dort liegen, aber nicht. Oder kannst du dir deren Vorhandensein hier erklären?«
Wieder schoss Tessa das Blut in den Kopf. Sie hatte sogar das Gefühl, rote Ohren zu bekommen und merkte, dass ihr kalt und warm wurde.
»Nein, kann ich nicht.«
»Hm.«
Caine sagte zunächst nichts, was Tessa auch nicht gefiel. Sie schaute strikt nach vorn und glaubte plötzlich, dass sich das Wasser bewegte und große gläserne Wellenberge bildete. Das traf nicht in der Wirklichkeit zu, so etwas spielte ihr die Fantasie vor.
»Ich bin überzeugt davon, dass du genau weißt, wem die beiden Jacken gehören, Tessa.«
»Ach ja?«, fragte sie schon trotzig. »Woher soll ich das denn wissen, verdammt?«
»Ganz einfach. Weil du von den Trägern dieser Jacken Besuch bekommen hast.«
Ruhig! Du musst ganz ruhig sein!, hämmerte sich Tessa ein.
Du darfst jetzt nichts sagen. Nicht falsch reagieren. Nur nichts tun, was noch seinen Verdacht bestärkt.
»Woher willst du wissen, dass man mich besucht hat?«
Ian Caine lachte spöttisch. »Ich bitte dich«, sagte er mit einer Stimme, die auch zu einem Beichtvater hätte passen können.
»So etwas merke ich. Es gibt Tage, da
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