1225 - Die Reliquie
zählte im Licht der Lampe sechs Stufen, die mein Freund rasch hinter sich ließ. Erst dann machte auch ich mich auf den Weg ins Unbekannte…
***
Tessa Long hatte den Wagen der beiden Yard-Leute abfahren sehen und brauchte jetzt erst mal eine Zigarette und auch einen Drink. Sie ging wieder zurück in ihre Küche, holte aus dem Schrank die Ginflasche und ein Glas, zog dann eine Schublade auf und entnahm ihr eine Packung Glimmstengel nebst Feuerzeug.
Sie zündete sich die Zigarette an, blies den Rauch aus und schaute in die graue Wolke hinein, die sich allmählich auflöste.
Aus den Schwaden konnte sie nichts ablesen, obwohl sie darauf starrte und über den Besuch der Männer aus London nachdachte.
Ein leichter Schauer rann über ihren Rücken, als sie daran dachte, dass ihr ehemaliger Gast Eric Tallier nicht mehr lebte.
Damit hätte sie nicht gerechnet, aber sie hatte ihn auch gewarnt, als sie von seinem Vorhaben erfahren hatte.
Es war nicht gut, in diesem kleinen See zu tauchen. Es war sogar verdammt gefährlich, das jedenfalls behaupteten die Einheimischen, zu denen Tessa auch gehörte, und deshalb hatte sie auch nie den Versuch gemacht, im See zu baden, mochte das Wetter noch so heiß sein wie in den vergangenen Tagen.
Sie hatte ihren Gast nicht davon abhalten können, und jetzt war er tot. Die Männer aus London würden es auch sein, wenn sie das Geheimnis des Sees zu ergründen versuchten. Da unten gab es etwas, das die Menschen nicht anrühren durften. Ein Relikt aus alter Zeit, als die Menschen sich von der Kirche abgewandt hatten, so jedenfalls sagte man.
Trotzdem hatten sie die Kirche der reuigen Sünderin geweiht, was nichts mehr brachte. Sie war trotzdem untergegangen und existierte unter Wasser weiter, mit allem, was in ihr steckte. All den bösen Gedanken der Menschen, die sie beeinflusst hatten und die auch in all den langen Jahren nicht verga ngen waren.
Sie erinnerte sich daran, dass Eric Tallier zwei Mal getaucht war. Nach dem ersten Tauchgang war er noch stiller und verschlossener gewesen als bei seiner Ankunft. Er hatte grübelnd in seinem Zimmer gesessen und sich eine kleine Mahlzeit kommen lassen. Zwei Sandwiches und zwei Flaschen Bier.
Dabei hatte Tessa ihm Fragen gestellt und nur sehr knappe Antworten bekommen.
»Es kann sein, dass ich Recht habe, MUSS aber nicht. Ich werde noch mal hinunter müssen.«
»Was suchen Sie denn?«, hatte Tessa gefragt.
»Den Beweis.«
»Wofür?«
Er hatte sie lange angeschaut, den Kopf geschüttelt und ihr erklärt, dass sie sowieso nichts verstünde und sie auf keinen Fall über seinen Besuch hier mit den Leuten im Ort sprechen sollte. Wenn sie es doch tat, konnte es gefährlich werden.
Tessa hatte sich gefügt.
Der zweite Tauchgang war für ihn erfolgreicher gewesen.
Davon hatte er sogar etwas mitgebracht, was Tessa aber nicht zu Gesicht bekommen hatte. Tallier war überstürzt abgereist und hatte sogar seine beiden Pressluftflaschen und andere Ausrüstungsgegenstände zurückgelassen.
Jetzt allerdings wusste Tessa, was er dort in der Tiefe gesucht und auch gefunden hatte. Knochen. Gebeine von einem Menschen, dessen Namen sie nicht kannte.
Oder war es die Reliquie der reuigen Sünderin, der die kleine Kirche geweiht war?
An diese Möglichkeit glaubte sie schon eher. Kam aber auch hier keinen Schritt weiter, weil die reuige Sünderin nicht personifiziert worden war. Die Kirche hatte einfach nur diesen allgemeinen Namen erhalten. Tessa hätte gern gewusst, wem die Kapelle tatsächlich geweiht worden war, und genau das musste auch das Problem ihres Gastes gewesen sein. Aber er hatte schließlich etwas gefunden.
Tessa zündete sich einen zweiten Glimmstengel an und goss auch Gin nach. Je länger sie über das Phänomen nachdachte, um so stärker stieg in ihr das Gefühl der Neugierde hoch.
Verdammt noch mal, dachte sie. Ich lebe hier wie auf dem Mond. Hier passiert nichts. Ich habe kaum Kontakt zu den anderen Menschen. Ich stehe oft genug im Regen, ich habe mich hier vergraben, aber jetzt sehen die Dinge anders aus.
Es ist etwas passiert. Es wird noch etwas passieren. Und es ist plötzlich spannend geworden.
Sie rauchte und kippte den Drink. Dann schüttelte Tessa sich, hustete, drückte die Zigarette aus und fasste einen Entschluss.
Sie wollte nicht mehr länger in ihrem Haus bleiben. Zwischen den Mauern versauern war nicht ihr Ding. Nicht weit entfernt passierte etwas, in das sie zwar nicht eingreifen konnte, aber es war auch nicht
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