1227 - Verschollen im Mittelalter
der Mönche sah herüber und nickte ihnen kurz zu, ohne jedoch das Gespräch zu unterbrechen.
Sie unterhielten sich in Latein, was es Nelson und seinen Freunden leichter machte, der Diskussion zu folgen. Latein gehörte im Internat zur Grundausbildung wie in anderen Schulen Deutsch und Englisch.
Allem Anschein nach ging es um den neuen Papst, Gregor X. und seinen Widersacher Kaiser Friedrich II.
»Friedrich beruft sich auf den weisen Joachim von Fiore«, sagte einer der Mönche, aus dessen Mondgesicht eine lilafarbene Knollennase ragte. »Ihr erinnert euch, dass Joachim das Reich des Heiligen Geistes exakt zu jener Zeit geweissagt hat, als Friedrich das Licht der Welt erblickte.«
»Zufall«, ereiferte sich ein anderer, »purer Zufall!«
»Und wenn schon! Friedrich hat erst kürzlich wieder das Wunderbare seiner Geburt betont – in Richtung Gregor, versteht sich: ›Per illud miraculum quo mater mea genuit me‹, soll er geschworen haben. Heiliger Strohsack! Ihr wisst, was das bedeutet?«
Die Gesichtsfarbe des anderen nahm eine ungesunde Röte an und an seinen Schläfen schwollen die Adern. »Die Macht über die irdischen Güter ist ihm nicht genug!«, wetterte er. »Er will auch über den Himmel herrschen! Womöglich will er selbst Gott sein! Glaubt mir, er ist die Inkarnation des Antichristen!«
Judith warf Nelson einen viel sagenden Blick zu, der so viel bedeutete wie: Schon wieder ein Antichrist!
»Er glaubt, er sei der Erlöser«, schaltete sich ein Dritter in den Disput ein. »Das kann Gregor nicht gefallen. Wenn ihr mich fragt: In diesem Kampf wird eines der beiden Schwerter zerbrechen.«
»Gregors Bann lässt ihn kalt«, donnerte der Eiferer. »Was ist denn mit seinem Versprechen, Jerusalem für die Christenheit zurückzuerobern?! Worte! Nichts als leere Worte!«
»Ich habe gehört, dass er bereits ein Heer um sich sammelt«, warf Bruder Knollennase ein. »Einige jener Ritter, die am Turnier teilnehmen, tragen bereits das Kreuz auf der Brust.«
»Hat Friedrich das nicht schon bei seiner Krönung in Aachen verkündet?«, spuckte der Eiferer in die Runde. »Und zwölf Jahre lang ist nichts geschehen.« Plötzlich zuckte sein Schlangenkopf herum und seine Augen fixierten die drei Freunde. »Gregor ist Franziskaner wie ihr!«, rief er. »Was haltet ihr von Friedrich dem Wunderbaren?«
Fünf Augenpaare sahen sie erwartungsvoll an.
Augenblicklich spürte Nelson wieder das Kribbeln in seinem Genick. Jetzt bloß nichts Falsches sagen, dachte er.
»Nun«, drängte der Eiferer nach einer Weile, »wir sind gespannt auf eure Meinung.«
Judith räusperte sich. »Der Heilige Franziskus hat uns die Demut gelehrt«, sagte sie und blickte in die Runde. »Gott weist den Menschen den Weg. Und sind nicht auch Gregor und Friedrich bloß Menschen?«
Einen Wimpernschlag lang sah es so aus, als ob der zornige Mönch zu einer heftigen Erwiderung ansetzen wollte. Doch Bruder Knollennase kam ihm zuvor: »Hört, hört!«, rief er und verzog sein Mondgesicht zu einem breiten Grinsen. »Unser junger Bruder hat weise gesprochen und uns Ältere zurückgeführt auf den lichten Pfad der Erkenntnis!«
Nelson atmete erleichtert auf. Über Judiths Gesicht huschte ein leises Lächeln.
Die Dominikaner kamen jetzt neugierig näher. Einer, der kaum älter, aber deutlich kleiner als die drei Freunde war, richtete das Wort an sie: »Habt ihr die Worte des Armen von Assisi mit eigenen Ohren vernommen?«, fragte er.
»Das will ich meinen«, erwiderte Luk und streckte sich. Nelson lief es kalt den Rücken runter. Das konnte ja heiter werden!
»Erzählt uns von ihm«, bat der junge Dominikaner. »Man hört ja seltsame Dinge über ihn. Angeblich soll er sogar den Vögeln gepredigt haben.«
Nelson schluckte, aber Luk hatte seine Hausaufgaben gemacht. »Wir haben mit ihm gebetet«, begann er, »auf dem Berg Alverna, wohin sich Franz zur Einkehr begab. Er hat uns sein Lobgebet gelehrt.« Luk wandte den Blick gen Himmel und begann in sich gekehrt zu rezitieren: »›Es lobe Ihn, den Ruhmreichen, Himmel und Erde und alle Kreatur, die im Himmel ist und auf Erden, das Meer und was darinnen ist.‹ Er hat uns angeleitet, wie man durch festen Glauben sieben Tage ohne Brot oder Wasser übersteht…« Bruder Knollennase blickte verschämt auf seinen wohlgenährten Bauch. »… und allen anderen irdischen Verlockungen widersteht. Wir waren bei ihm in der Stunde seines Todes. Kein Jahr ist seither vergangen. Wir standen nicht weit von ihm in der
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