1227 - Verschollen im Mittelalter
beiden Mongolen verlas eine kurze Botschaft seines Herrn, die sein Gefährte in holpriges Mittelhochdeutsch übersetzte. Unter beifälligem Nicken der Herrschaften setzten sich beide wieder.
»Wirken nicht sehr blutrünstig«, raunte Judith.
Nelson runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Wenn man bedenkt, dass sie sich aus den Hirnschalen ihrer besiegten Gegner Trinkschalen fertigen lassen.« Sie grinste. »So steht es jedenfalls in unseren Geschichtsbüchern.«
»Ich freue mich«, hob der Burgherr erneut an, »nun einen Mann ankündigen zu dürfen, dessen Waffe weder Lanze noch Schwert ist, dessen Treffsicherheit jedoch genauso gerühmt wird wie jene unserer tapfersten Ritter. Er schmiedet Verse, an denen er so lange feilt, bis sie uns direkt ins Herz treffen. Heißen wir gemeinsam den größten Dichter unserer Tage willkommen – Walther von der Vogelweide.«
»Das glaub ich jetzt nicht«, raunte Judith, als ein hagerer, bunt gekleideter Paradiesvogel in den Saal flatterte, den anwesenden Damen schmachtende Blicke zuwarf, den hohen Herren buckelnd seine Ehrerbietung zollte, bevor er sich endlich dem einfachen Volk zuwandte und ihm Kusshändchen zuwarf. Das alles wirkte allein schon komisch genug, bekam jedoch noch eine besondere Note dadurch, dass jener, der dies so keck und aufreizend darbot, seine besten Mannesjahre schon lange hinter sich hatte.
Sein Publikum jedenfalls hatte er bereits gewonnen, noch bevor er den ersten Akkord auf seiner Laute anschlug. Mit glockenheller Stimme trug er sogleich ein trauriges Liebeslied vor, das auch das Herz so manchen Mannes schmelzen ließ, bevor er dazu überging, in bissigen Versen die tragikomische Geschichte eines Fürstenhauses zu erzählen, die, wie an den vielen Zwischenrufen abzulesen war, zum allgemeinen Klatschgut ihrer Zeit gehörte.
Fasziniert beobachtete Nelson, wie Walther sein Publikum fesselte und die Anwesenden allein durch die Kraft seiner Bilder und den Schwung seines Vortrags für Momente in eine andere Welt entführte. Als er geendet hatte, brandete tosender Beifall auf, den der Dichter empfing wie die kühle Brise am Abend eines heißen Sommertags.
»Ein wenig mehr Bescheidenheit stünde ihm nicht schlecht zu Gesichte«, ließ sich Luk plötzlich vernehmen, der dem Geschehen bis dahin völlig ausdruckslos gefolgt war, jetzt aber die Miene eines Wanderpredigers zur Schau trug. »Den Eitlen und Hochmütigen ist der Zorn Gottes gewiss!«
Nelson seufzte. Noch vor wenigen Tagen wäre Luk nach einem solchen Auftritt ebenso verzückt gewesen wie er selbst, beseelt von dem einen Wunsch, diese verrückte Begegnung zu Hause mit einem ganz bestimmten Menschen zu teilen. Einem Menschen, der als Lehrkörper knapp achthundert Jahre später am selben Ort tätig sein würde, an dem dies alles geschah.
»Trink einen Schluck, Bruder Gawein«, erklärte Judith und goss Luks Becher voll Wein. »Wir wollen doch, dass es dir gut geht, nicht?«
Luk sah sie einen kurzen Moment lang befremdet an, doch plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem seligen Lächeln. Er setzte an und leerte den Becher in einem Zug. Dann bedachte er Judith mit einem Blick, den ein artiger Junge seiner strengen Mama schenkt.
Judith goss ihm nach, wobei sie Nelson verschwörerisch von der Seite ansah. Der grinste verstohlen. »Prost, Bruder!«, rief er und stieß mit Luk an. »Auf einen gesegneten Abend!«
Wie auf Kommando kehrten die Musikanten zurück und legten gleich richtig los. Nelson ließ seine Blicke schweifen und wartete mit Judith auf den passenden Moment. Die Zeichen standen günstig. Die Stimmung wurde von Minute zu Minute ausgelassener, wozu Met und Wein ein Übriges taten. Einige Gäste fingen an Lieder zu grölen, andere suchten sich eine Partnerin und tanzten durch den Saal. Ein Paar rutschte auf einem der abgenagten Knochen aus, die zu Hunderten auf dem Holzparkett lagen, und landete in einer Pfütze aus Wein. Wenig später fiel ein Bursche vom Stuhl und blieb einfach liegen – seine Kumpane lachten auf, scherten sich dann aber nicht weiter um ihn.
Irgendwann gab Nelson Judith ein Zeichen. »Sollen wir?«
Judith legte Luk einen Arm um die Schulter und beugte sich zu seinem Ohr. »Komm, Bruder, lass uns ein wenig frische Luft schnappen«, säuselte sie.
»Will noch nicht gehen«, lallte Luk und langte nach meinem Becher. Judith schüttelte unnachsichtig den Kopf und schob das Trinkgefäß außer Reichweite. »Wirst sehen, Gawein, tut dir gut«, flüsterte sie. »Und wenn du
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