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1227 - Verschollen im Mittelalter

1227 - Verschollen im Mittelalter

Titel: 1227 - Verschollen im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Smith
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ihn für den Antichristen. Wer sich für ihn einsetzt, gerät selbst in Verdacht, mit dem Teufel zu paktieren. Für die Verteidiger des Glaubens gibt es keine Standesunterschiede. Sie kennen nur gut und böse. Könnte sonst der Papst einen Kaiser mit dem Bannfluch belegen?«
    Nelson fühlte eine große Leere in sich aufsteigen, die auch den letzten Rest seiner Hoffnung fraß. Vorhin hatte er kurz darüber nachgedacht, ob sie Levent nicht gewaltsam befreien sollten. Aber was konnten drei schmächtige Kinder der Neuzeit, bewaffnet mit einem Elektroschocker, Pfefferspray und einem Flitzebogen, gegen die kampferprobten, hoch gerüsteten und gewissenlosen Schergen der Glaubensritter ausrichten? Allein der Versuch wäre glatter Selbstmord!
    Nelson hatte den Gedanken verworfen, noch ehe er zu Ende gedacht war. Resignation breitete sich in ihm aus.
    Eine Eule sandte ihren monotonen Klageruf in die Nacht. Das Zirpen der Grillen setzte aus, um im nächsten Augenblick nur umso lauter wieder anzuheben. Eine Wolke schob sich vor den Mond ohne ihn zu verdecken.
    Ein Film, dachte Nelson. Wir sind gefangen in einem gottverfluchten Film.
    »Was werden sie mit ihm machen?«, fragte Judith mit leiser Stimme.
    »Sie werden ihm den Prozess machen«, entgegnete Severin. »Sie klagen ihn an, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Er wird keine Gelegenheit haben, sich zu verteidigen. Das Urteil steht bereits fest.«
    Nelson jagte ein kalter Schauer über den Rücken. Auf Levent wartete der Scheiterhaufen! Sie würden ihn verbrennen!
    »Aber bei dir? Stand bei dir auch schon das Urteil fest?« Judiths Stimme klang schrill. Sie schien kurz davor, die Fassung zu verlieren.
    »Bei mir, mein Kind?« Severin sprach ruhig auf sie ein. »Bei mir gab es weder Urteil noch Anklage. Man wollte mir eine Lektion erteilen. Das ist etwas anderes. Viele Menschen kennen mich – niemand würde wagen mir vorzuwerfen, ich sei der Antichrist. Es sind meine Ansichten, die der glühende Spieß auslöschen sollte. Meine Anschauungen von der Welt, von Gott und den Menschen. Es sind nicht die ihren, aber sie werden gehört. Das empfinden sie als Gefahr.«
    Judith hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen. Sie weinte. Luk stand plötzlich auf und ging zu ihr. Er legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie. Auch er weinte. Anscheinend war er endgültig in der Wirklichkeit angelangt.
    »Ihr sollt nicht weinen, meine Kinder«, sagte Severin. »Noch ist es nicht zu spät…«
    »Sie werden ihn töten«, schluchzte Judith. »Früher oder später werden sie ihn umbringen, diese Schweine.«
    »Noch ist es nicht zu spät«, wiederholte der Blinde.
    Nelson horchte auf. »Was meinst du damit?«
    »Uns bleiben zwei Tage«, erwiderte Severin. »Und in zwei Tagen kann vieles geschehen.«
    »Zwei Tage?« Nelson runzelte die Stirn. »Warum sollten sie so lange warten?«
    »Weil sie müssen. Bis zum Ende des Turniers gilt der Burgfriede. Er ist selbst den Scheinheiligen heilig. Während des Burgfriedens gibt es keine Prozesse, keine Urteile und insofern auch keine Urteilsvollstreckung.«
    Nelson schöpfte neue Hoffnung. »Zwei Tage«, murmelte er beschwörend. »Zwei Tage.«
    »Wenn ihr mir erlaubt, einen Gedanken zu Ende zu denken«, begann Severin. »Ich habe da eine Idee…«
    Jetzt erwachten auch Luk und Judith aus ihrer Erstarrung. Erwartungsvoll blickten sie den Alten an. Dieser sprach weiter: »Der Sieger des Turniers wird sich am Ende vor seiner Herzensdame verneigen, um seinen Ruhm und seine Ehre an sie abzutreten. Damit steht ihr ein Wunsch frei, der eigentlich ihm gebührt, den sie jedoch in seinem Namen öffentlich kundtut. Auf diese Weise knüpft sie ein symbolisches Band zwischen ihnen. Die Erfüllung dieses Wunsches muss ihr gewährt werden – als Zeichen der Hochachtung vor der Tapferkeit und Gewandtheit des Ritters und der ewigen Gültigkeit der hohen Minne.«
    Über die hohe Minne hatten sie im Unterricht gesprochen. Nelson erinnerte sich, dass vor allem der häufig so nüchtern daherredende Luk das Ideal der reinen Liebe beschworen und keine abweichende Meinung hatte gelten lassen. Er selbst dagegen fand es gelinde gesagt seltsam, dass ein Ritter, der wie ein Popstar verehrt wurde und somit jede haben konnte, sein Herz ausgerechnet an eine verschwendete, die für ihn unerreichbar war. Er konnte keinen Sinn darin erkennen, dass sich jemand für eine verheiratete Frau ein Bein ausriss, sich die Nase blutig oder gar zum Krüppel schlagen ließ, und dies mit der

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