1227 - Verschollen im Mittelalter
weckten die anderen und brachen auf. Judith hatte sich entschieden und gab ihnen zu verstehen, dass sie darüber kein weiteres Wort verlieren wollte. Also schwiegen sie.
Als sie den Burghügel hinunterwanderten, ging am Horizont gerade die Sonne auf und tauchte die Ebene in warmes, purpurnes Licht. Severin würde keinen Sonnenaufgang mehr erleben, dachte Nelson und empfand Hass für die, die ihm dies angetan hatten. Aber auch Bewunderung für den ungebrochenen Stolz des Alten.
Nach einigen Stunden beschwerlichen Fußmarschs erreichten sie eine kleine Stadt, die sich in ein schmales Tal schmiegte. Ringsherum buckelten grün bewachsene Hügel gegen tief hängende Wolken. Eine niedrige Mauer umschloss das Städtchen. Vier Türmchen mit spitzen Dächern markierten die vier Himmelsrichtungen. Von weitem sah sie aus wie eine Spielzeugstadt, märchenhaft und schön.
Doch als sie näher kamen und das Stadttor passierten, verwandelte sich die Idylle schlagartig in eine lärmende Kloake. Auf den engen, schlammigen Straßen häufte sich der Unrat und ein fürchterlicher Gestank verschlug ihnen den Atem.
Adiva folgte Severins Anweisungen und dirigierte sie durch verwinkelte Gassen, in die kaum Licht fiel: an geduckten, verdreckten Fachwerkhäusern, qualmenden Schmieden, Scheunen und einer widerlich stinkenden Gerberei vorbei, bis sie zu einem größeren Platz gelangten, dessen Stirnseite von einer hohen Mauer begrenzt wurde.
»Da sind wir«, verkündete Severin. »Wenn wir Glück haben, sind die Exerzitien schon vorüber.«
»Exerzitien?«, fragte Judith ungläubig. »Deine Bekannte lebt im Kloster?«
»Ganz recht«, antwortete Severin. »Kloster Paradiese. Ein besonderer Ort. Ihr werdet sehen.«
»Ist sie eine… Nonne?«
»Natürlich.« Severin grinste. »Sie nennen sie Schwester Clothilde. Sie hasst diesen Namen. Als Zofe hieß sie Lioba. So kann’s gehen.«
Die Nonne, die ihnen öffnete, schien nicht überrascht über den unerwarteten Besuch dreier junger Mönche, eines Blinden sowie eines Kindes. Sie geleitete sie wortlos zum Kreuzgang und hieß sie dort warten. Nach einer Weile kehrte sie mit einer Ordensschwester zurück, die sie um mehr als Haupteslänge überragte. Sie trug einen weißen, bis zum Boden reichenden Ärmelrock, ein schwarzes Skapulier mit Kapuze und ein weißes Kopftuch mit schwarzem Schleier. Sie war eine wahrlich stattliche Erscheinung. Als sie Severin umarmte, war von ihm einen Moment lang nichts mehr zu sehen. Und selbst der lange Luk musste bei der Begrüßung zu ihr aufschauen.
»Ich habe bereits vernommen, was sie dir angetan haben«, sagte sie und hielt Severins Hand. Leiser fügte sie hinzu: »Der Blitz soll sie treffen!«
Nachdem Severin seine Begleiter vorgestellt hatte, führte Schwester Clothilde ihre Besucher ins Refektorium, wo sie ihnen zunächst Hirse und Wein auftrug, bevor sie sich nach ihrem Anliegen erkundigte.
»Eine Raupe möchte sich in einen Schmetterling verwandeln«, verkündete Severin. Dann erzählte er ihr in knappen Worten, was in den vergangenen Tagen geschehen war und warum sie dringend die Hilfe der Ordensfrau benötigten. Wohlweislich sagte er nichts über die wahre Herkunft der Freunde, sondern beließ es bei der Erklärung, dass sie ohne eigenes Verschulden in diese verzweifelte Lage geraten waren.
Schwester Clothilde stellte keine weiteren Fragen. Als Severin geendet hatte, bat sie Judith aufzustehen und ging einige Male prüfenden Blickes um sie herum. Sie strich ihr übers stoppelige Haar, nahm ihr Gesicht in beide Hände, nickte zufrieden, fuhr mit dem Daumen über Judiths Augenbrauen, hieß sie die Augen schließen, nickte ein weiteres Mal und drückte ihr zum Abschluss einen Kuss auf die Stirn.
»Es wird mir eine Freude sein, dem Schmetterling die verklebten Flügel zu reinigen«, sagte sie. »Gott liebt die Schönheit, Schätzchen. Und dich wird er besonders mögen.«
Judith lächelte verlegen.
»Wenn du willst«, wandte sich Schwester Clothilde an Adiva, »kannst du mit uns kommen. Ich glaube, auch dein Haar könnte etwas Pflege vertragen.«
Adiva strahlte. Die Ordensfrau nahm das Mädchen bei der Hand und bedeutete Judith, ihr zu folgen. »Dort, wo wir jetzt hingehen, haben Männer leider keinen Zutritt«, sagte sie und grinste verschmitzt. »Das ist mitunter recht bedauerlich, aber wenn es unserem Herrn so gefällt…«
Nelson, Luk und Severin blieben allein zurück.
»Was«, fragte Nelson nach einer Weile, »hat eine Frau wie Schwester
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