1227 - Verschollen im Mittelalter
zurechtzufinden wie im Haus meiner eigenen Sprache. Aber das macht es mitunter nur schwieriger, die Geheimnisse der Welt zu begreifen, versteht ihr?« Adivas Kopf lag in seinem Schoß. Sie hatte die Augen geschlossen. Zärtlich strich ihr der Alte übers Haar. »Euer Geheimnis ist weit reichend, so scheint mir, und ich weiß nicht, ob mein Verstand groß genug ist, es zu erfassen. Doch meine Neugier ist größer, verzeiht.«
Nelson betrachtete das seltsame Paar und fragte sich, ob es richtig war, ihr Wissen um die Zukunft offen zu legen und damit das Weltbild des Alten so nachhaltig zu verändern. Severin war ein weiser Mann, daran zweifelte er nicht. Aber wie würde er reagieren, wenn ihm jemand eröffnete, dass die Menschen dereinst jene Gesetze außer Kraft setzten, die für den Blinden und seine Zeitgenossen absolute Gültigkeit besaßen? Dass spätere Generationen in der Lage waren, auf dem Mond zu landen und Sonden zum Mars zu schicken, die über Millionen von Kilometern gestochen scharfe Abbilder des Planeten zur Erde zurücksandten? Dass eine Reise, für die der Blinde Monate oder Jahre benötigte, irgendwann nur noch wenige Stunden dauerte? Und dass die Krieger der kommenden Jahrtausendwende mit einer einzigen Bombe Hunderttausende von Menschen töteten?
Dabei wusste Nelson, dass er und seine Freunde den Vorhang der Geschichte längst zur Seite gezogen hatten. Nur ein Stück zwar, doch weit genug um vieles von dem, was noch konturlos war, zu erahnen. Severin war weit gereist und vielen Menschen begegnet. Er gab sich sicher keinen Illusionen darüber hin, wie die Menschheit ihr Wissen nutzte. Die bedeutenden Erfindungen – das galt in der Antike genauso wie im Mittelalter und in der Neuzeit – waren stets segensreich und todbringend zugleich gewesen. Und daran würde sich auch in Zukunft nie etwas ändern.
So begann Nelson zu erzählen: von sich und seinen Freunden im Internat; von der Zeit, in der sie aufwuchsen; von Autos und Flugzeugen, Fernsehern und Computern; von Demokratien und Diktaturen, Weltkriegen und dem Zusammenwachsen der Völker; schließlich von Levent und seiner Zeitmaschine, die sie in dieses Abenteuer gestürzt hatte, das allem Anschein nach kein gutes Ende nahm.
Severin schwieg. Aufmerksam lauschte er den Worten des Jungen, der sein Enkelsohn hätte sein können, tatsächlich aber viele Generationen später geboren war. Hin und wieder nickte er bedächtig, dann wieder schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Deshalb also sind wir hier«, schloss Nelson, »aber ich fürchte, wir sind umsonst gekommen.«
»Ich kenne euren Freund«, sagte Severin in die sich ausbreitende Stille hinein. Nelson glaubte zunächst nicht richtig gehört zu haben. Aber der Blinde fuhr fort: »Das Schicksal hat uns zusammengeführt in jener Stunde, da ich mein Augenlicht verlor. Für kurze Zeit waren wir Brüder in der Not. Man hatte ihn irgendwo aufgegriffen und bezichtigte ihn mit dem Teufel im Bunde zu sein. Dabei ist er doch noch ein Kind!« Severin stockte. »Seine Augen… Ich sehe sie noch vor mir. Sein Blick war der letzte, den zu erwidern mir vergönnt war.«
»Aber was hat er denn getan?«, presste Judith hervor. »Es kann sich doch nur um ein Missverständnis handeln.«
»Ich weiß nicht, was man ihm vorwirft«, antwortete Severin bedrückt. »Er weiß es wohl selbst nicht. Vielleicht war er zur falschen Zeit am falschen Ort. In diesen dunklen Tagen genügt ein unbedachtes Wort, um Bekanntschaft mit dem Henker zu schließen.«
»Wir müssen ihn da rausholen«, murmelte Nelson. »Irgendwie…«
»Irgendwie«, echote Luk.
Judith sprang plötzlich auf. »Es muss einen Weg geben! Wir können ihn doch nicht einfach krepieren lassen!«
Nelsons Gedanken überschlugen sich. Er dachte an das gusseiserne Schloss, zu dem sie keinen Schlüssel besaßen und das sie unmöglich aufbrechen konnten. Er dachte an die Wachposten, die nach dem Zwischenfall mit den drei angeheiterten Mönchen aufmerksamer denn je waren. Und er erinnerte sich an die Drohung des Mönchs, der gemeinsam mit dem Schlangenritter Alpais alles daran setzen würde, dass sich ein Zwischenfall wie vorhin nicht wiederholte.
»Und wenn wir Fürst von Rosenstoltz bitten uns zu helfen?«, überlegte Judith. »Er ist der Herr der Burg. Vielleicht weiß er ja gar nicht, dass in den Katakomben…«
»Zweifellos«, unterbrach sie Severin, »wird euer Freund mit Wissen und Duldung des Fürsten in der Burg gefangen gehalten. Vergesst nicht, man hält
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