1227 - Verschollen im Mittelalter
Clothilde in einem Kloster verloren? Sie ist so… anders.«
»Anders, wahrlich, das ist sie«, erwiderte Severin und lächelte in sich hinein. Dann wurde er ernst. »Aber weil sie anders ist, blieb für sie am Ende nur ein Ort wie dieser.« Er stand auf und streckte sich. »Ich will es euch erklären: Wer von Adel ist, mag es nicht, wenn ein Lakai auf ihn herabsieht. Die Zofe Lioba hat das sehr bald zu spüren bekommen. Sie hat versucht sich klein zu machen. Aber ihre Natur hat sich dagegen gesträubt.«
»Aber warum hat sie nicht einfach geheiratet und Kinder gekriegt?«, fragte Luk.
Severin setzte sich wieder. »Kennst du einen Mann, dem es gefällt, ständig zu seiner Frau aufschauen zu müssen? Siehst du? Keine Arbeit, kein Mann. Lioba hatte nur die Wahl zwischen einem Leben in klösterlicher Demut und dem sicheren Tod. Sie hat sich für das Leben entschieden.« Er fuhr mit den Fingern unter den Verband und kratzte sich. Als er sie wieder hervorzog, waren sie voll Blut. »Gott sei Dank ist sie in einem Kloster wie diesem untergekommen. In dem man ihre wahre Größe schätzt und ihre kleinen Schwächen übersieht. Ihr müsst wissen, dass selbst die ehrenwerte Äbtissin von Zeit zu Zeit die Dienste unserer geläuterten Zofe in Anspruch nimmt.«
Sie unterhielten sich noch über dies und das. So erfuhren die Freunde etwa, dass Schwester Clothilde im vergangenen Jahr zur Kleiderverwalterin des Klosters aufgestiegen war und nun die Verantwortung für Kleidung, Bettzeug und Schuhe aller einundzwanzig Ordensschwestern trug. Und auch, dass das von den Nonnen gebraute Bier wahrhaft paradiesisch schmeckte, weshalb Besucher von weit her kamen um davon zu kosten.
Severin kannte viele Anekdoten und Geschichten, die die Zeit auf unterhaltsame Weise füllten. Und doch wurde Nelson nach einer Weile unruhig. Zwischendurch schweifte er immer wieder ab und stellte sich Judith in allen möglichen Erscheinungen vor. Mal in einem langen, schwarzen Gewand mit blond gelocktem, schulterlangem Haar. Mal im bunten Zweiteiler mit spitzen Schuhen und Hochsteckfrisur. Doch als sie dann endlich am Arm von Schwester Clothilde zur Tür hereinschritt, hätte er sie fast nicht wiedererkannt: Die hässliche Eule, die einst als wilder Kolibri durchs Internat geflattert war, hatte sich binnen weniger Stunden in einen anmutigen Schwan verwandelt!
Sie trug ein weißes, luftiges Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und an der Taille von einem blütengelben Band zusammengehalten wurde. Elfenbeinfarbene, perlenbesetzte Schuhe lugten unter ihrem Kleidersaum hervor. Hellblonde, glatte Haare, in die Schwester Clothilde weiße Bänder eingeflochten hatte, fielen ihr über die Schultern fast bis zum Po. Sie umrahmten ein Gesicht, das, von der ehemaligen Zofe dezent geschminkt, um vieles reifer wirkte als noch vor wenigen Stunden. Der einzige Schmuck bestand aus einem Diadem, das mit himmelblauen Steinen besetzt war.
Judith sah aus wie eine Märchenfee!
»Mach den Mund zu!«, begrüßte sie Nelson ungehalten und half ihm auf diese Weise, die ihm vertraute Judith hinter der damenhaften Erscheinung wiederzuerkennen.
»Ein Wunder!«, tönte Luk.
Schwester Clothilde grinste von einem Ohr zum anderen. »Ja, staunt nur, Brüder, das gefällt uns Hübschen. Und wenn ihr selbst mit dem Gedanken spielt – ich hätte noch Termine frei…«
Auch Adiva strahlte. Die ehemalige Zofe hatte das Haar des Mädchens gründlich gewaschen und zu einem kunstvollen Zopf geflochten. Anstelle ihrer verdreckten Kutte trug Adiva ein schlichtes, hübsches Kleid und neue Sandalen.
»Und um dich, mein Lieber«, wandte sich die Ordensfrau an ihren blinden Freund, »wird sich Schwester Agnes kümmern. Sie wartet bereits auf dich. Deine Wunden müssen gereinigt werden und ein neuer Verband wäre auch angeraten.«
Severin wehrte sich zunächst, doch Schwester Clothilde ließ keine Widerrede gelten. So fügte er sich endlich und wurde von ihr ins Infirmarium, dem Krankentrakt des Klosters, geleitet.
Die Freunde blieben mit Adiva zurück. Zunächst schwiegen sie sich an. Judiths Anblick hatte Nelson buchstäblich die Sprache verschlagen. Ihr selbst dagegen schien die eigene Verwandlung eher peinlich zu sein. Hin und wieder warf er ihr einen verstohlenen Blick zu und bemerkte, dass sie unsicher und skeptisch an sich hinabsah.
Luk war es, der das Schweigen endlich brach. »Du siehst echt hammermäßig aus«, meinte er. »Hoffentlich kippt der blaue Reiter nicht vom Gaul, wenn
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