1229 - Das Vogelmädchen
arrangieren muss. Trotzdem darf ich die Gewalt doch hassen, nicht wahr?«
»Sicher.«
»Wie kannst du das aushalten, John? Du wirst tagtäglich damit konfrontiert.«
»Es ist schwer zu sagen. Man wächst hinein, aber man muss so hineinwachsen, dass man am Morgen noch immer in den Spiegel schauen kann und der Meinung ist, seine Sache gut gemacht zu haben. Es gibt oft keine andere Möglichkeit, Max. Ich kämpfe ja nicht nur gegen Menschen, die sind sogar der kleinere Teil. Meine Feinde sind Dämonen oder dämonische Wesen, allerdings auch Menschen, die sich in ihrem Wahn nach irgendetwas auf die falsche Seite gestellt haben. Das hast du bei deiner Schwester Florence erleben können und auch bei diesem Professor Elax.«
»Richtig, John, und daran hatte ich auch zu knacken. Ich bin jetzt noch nicht darüber hinweg.« Sie streckte ihre Hand aus, um mich berühren zu können. »Nimm mir nicht übel, was ich jetzt sage, aber ich habe den Eindruck, dass sich mein Leben nach unserem ersten Zusammentreffen radikal geändert hat. Als wärst du für mich so etwas wie ein Knackpunkt des Schicksals gewesen.«
»So kann man es auch nennen.«
»Und es macht dir nichts aus?«
Ich schaute sie offen an. »Warum sollte es das?«
Carlotta erhob sich. »Ich brauche noch was zu trinken. Soll ich euch Wasser mitbringen?«
»Das wäre nett«, sagte ich.
Das Vogelmädchen ging lächelnd an uns vorbei. Ich schaute auf seinen Rücken und sah dort die beiden zusammengelegten Flügel. Begreifen konnte ich dieses Phänomen noch immer nicht so recht, aber es brachte auch nichts, wenn ich mir darüber den Kopf zerbrach.
»Ich werde immer auf sie Acht geben müssen, wenn wir das hier überstehen, John«, flüsterte Maxine mir zu. »Sie ist so etwas Wunderbares und Außergewöhnliches. Sie darf nicht in fremde Hände gelangen, und bisher hat noch niemand bemerkt, wer sie wirklich ist. Natürlich hat man mich nach ihr gefragt. Es fiel ja auf, dass ich nicht mehr allein lebe. Ich habe sie als mein Patenkind vorgestellt, und das ist von den Leuten akzeptiert worden.«
»Na bitte…«
»Das sagst du so leicht. Es ist nicht einfach, wenn man seine Flügel immer verbergen muss. In der Nacht fliegt sie, und wenn sie das tut, habe ich trotzdem Angst davor, dass man sie entdeckt, einsperrt, zur Schau stellt oder tötet. Deshalb können wir nie permanent in einer gewissen Ruhe und Entspannung leben, aber ich habe mich daran gewöhnt und bilde sie zu meiner Assistentin aus, denn Carlotta kommt mit den Tieren wunderbar zurecht. Selbst die Aggressiven werden bei ihr lammfromm. Das ist schon ein Vorteil für mich. Aber ihre Flügel muss sie stets unter dem Kittel versteckt halten.«
»Macht es ihr Probleme?«
»Nein, John, sie hat sich daran gewöhnt. Sagt sie jedenfalls, und ich glaube ihr.« Ein Lächeln ließ ihr Gesicht weich erscheinen. »Das Verhältnis zwischen uns ist super. Es könnte auch nicht besser zwischen Mutter und Tochter sein.«
»Das freut mich.«
»Aber es gibt auch Schwierigkeiten.« Das Lächeln verschwand wieder aus ihrem Gesicht. »Was denkst du, John? Ob wir in eine Schiene hineingeraten sind, die uns in ein Gebiet hineintreibt, das eigentlich deine Sache ist?«
»Ich hoffe nicht.«
Da war Maxine skeptisch, das sah ich ihr an, aber sie ging nicht weiter auf dieses Thema ein, sondern drehte mit einer langsamen Bewegung den Kopf und schaute in die Richtung, in die Carlotta verschwunden war.
»Hast du was?«, fragte ich.
»Nicht wirklich. Eigentlich hätte sie schon zurück sein mü ssen. Es kann doch nicht solange dauern, um eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen.«
Da hatte sie etwas gesagt, und ich war plötzlich misstrauisch geworden. Hastig stand ich auf. Dabei versuchte ich, einen Blick in den Garten zu erhäschen, um dort etwas erkennen zu können, aber Bewegungen waren nicht zu sehen, was wiederum nicht viel bedeutete, denn die Schatten ballten sich auf dem großzügigen Gelände schon an vielen Stellen zusammen.
Auch die Ärztin war aufgestanden. Sie stand dicht hinter mir, berührte mich sogar und hatte mir ihre Hände auf die beiden Schultern gelegt. Ich spürte ihre Wärme und den leichten Druck des Körpers und wurde wieder daran erinnert, dass sie eine attraktive Frau war.
»Siehst du was?« Die Worte und ihr warmer Atem huschten an meinem rechten Ohr vorbei.
»Nein.«
»Sicher?«
»Kann man das sein?«
Ich erhielt keine Antwort auf die Frage. Stattdessen meinte Maxine: »Soll ich noch
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