1231 - Im Würgegriff des Grauens
Leere Augenhöhlen, die wie Eingänge zu tiefen Schächten wirkten. Der Mund bestand ebenfalls nur aus einer Öffnung, hinter der die Dunkelheit gähnte.
Ich schwieg, hörte mich atmen. Spürte wieder die Kälte auf meiner Haut und die leichte Wärme des Kreuzes. Dabei hatte ich das Gefühl, wegzutreiben. Noch immer war ich damit beschäftigt, die Leere und den Anblick zugleich in meinem Innern zu verdauen. Auch weil ich dabei an Jane Collins dachte.
Ich stand noch einen Schritt vor der glatten Spiegelfläche entfernt. Immer wieder starrte ich das Gesicht an, und mich interessierten dabei die Bewegungen auf seiner Vorderseite. Es gab sie nicht. Sie waren einfach erstarrt und hatten die Risse hinterlassen. Und trotzdem tat sich dort etwas, denn an den Lippen sah ich das Zucken. Als wären sie dabei, zu grinsen.
Das Gesicht verspottete mich, während zugleich in den Augenhöhlen der dunkle Rauch erschien, als hätte das Feuer der Hölle ihn produziert. Der Rauch strömte hervor. Er verteilte sich auf der Spiegelfläche. Er wölkte, er zerfaserte, und so entdeckte ich manche Figuren, die sich nach irgendeinem Muster zusammensetzten. Ich war bereit, auf den Spiegel zuzugehen und ihn mit meinem Kreuz zu attackieren. Aber etwas hielt mich davon ab, denn ich hatte das Gefühl, Jane Collins damit zu schaden. Es war gut vorstellbar, dass sie sich in den Fängen des Gesichts befand, und da wollte ich auf keinen Fall etwas Negatives riskieren.
Aber es gab noch Jennifer Flannigan. Sie war eine Mitarbeiterin des Psychologen, und sie würde mir sicherlich mehr über die rissige Betonfratze sagen können.
Deshalb ließ ich das Gesicht in Ruhe und zog mich wieder zurück, wobei sich automatisch auch das Kreuz von der Spiegelfläche entfernte und die Verbindung immer schwächer wurde.
An der Tür schaute ich ein letztes Mal auf den Spiegel. Das Gesicht war noch vorhanden, aber seine Umrisse tauchten allmählich weg. Die Spiegelfläche saugte sie ein, und als ich schließlich rückwärts über die Schwelle trat, war es nicht mehr zu sehen. Zumindest nur noch als schwacher Fleck.
Jennifer Flannigan und Suko hatten das Zimmer des Psychologen nicht verlassen. Nebenan klingelte das Telefon, doch niemand kümmerte sich darum. Suko hatte die Frau in einen Sessel gedrückt, wo sie mit ausgestreckten Beinen saß und wartete. Das Zittern hatte zwar nicht aufgehört, aber es war schwächer geworden. Jetzt saß sie auf dem weichen Leder wie jemand, der sich am liebsten versteckt hätte und nie wieder aufgetaucht wäre.
Suko brauchte sich um die Frau nicht mehr zu kümmern, deshalb drehte er sich mir zu. Seinem Gesicht sah ich an, dass er zahlreiche Fragen hatte, mit denen er auch nicht hinter dem Berg hielt.
»Bitte, John, du musst doch was erlebt haben.«
»Das habe ich auch.«
»Und?«
»Du hast den Spiegel gesehen?«
Er nickte. »Nur kurz, aber immerhin.«
»Da erschien ein Gesicht«, erklärte ich nach einem tiefen Atemzug. »Das Gesicht eines Mannes.«
»Kanntest du ihn?«
Diesmal musste ich lachen. »Nein, ich kannte ihn nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Und es war auch nicht das Gesicht eines normalen Menschen, sondern das eines Monsters. Ein altes Gesicht, eine Fratze, grau wie Beton oder Stein, der durch zahlreiche Risse gekennzeichnet wurde. Leere Augenhöhlen, ein offener Mund. Schwärze in den Augen und auch im Mund.« Ich zuckte mit den Schultern. »Leider kann ich dir nicht sagen, zu wem das Gesicht gehört…«
»Barker vielleicht?«, unterbrach Suko mich.
»Keine Ahnung.«
»Es gibt doch keine andere Lösung.«
»Sollte man meinen. Aber welcher Patient geht schon zu einem Psychologen, der so aussieht?«
»Stimmt auch wieder.«
Ich deutete auf Jennifer Flannigan. »Deshalb ist sie für uns wichtig. Sie weiß mehr als sie zugegeben hat. Und warum wollte sie uns erschießen? Hast du sie das gefragt?«
»Ja.« Suko lächelte vor sich hin. »Ich bekam allerdings keine Antwort, die mich zufrieden gestellt hätte.«
»Was sagte sie?«
»Jennifer sprach davon, dass sie es hat tun müssen. So einfach ist das. Plötzlich zieht man eine Waffe und schießt auf die Besucher. Das scheint in einer psychologischen Praxis normal zu sein. Zumindest in dieser, John.«
»Und weiter?«
Mein Freund schüttelte den Kopf. »Nichts weiter, John, gar nichts. Ich habe es zwar versucht, aber sie wollte nicht reden. Es war, als hätte man ihr den Mund zugenäht. Kann der Schock sein. Es kann auch mit etwas anderem
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