1236 - Grauen im stählernen Sarg
Unkraut-Gestrüpp verborgen, aber wer ihn kannte und wer vor allen Dingen genau hinschaute, der entdeckte die Lücke, durch die sie früher bei ihren Mutproben gekrochen waren. Mal mit Taschenlampe, mal ohne.
Die Wege in die Finsternis waren immer eine besondere Mutprobe gewesen, aber nichts im Vergleich zu dem, was jetzt vor ihr lag. Früher hatten sie von der Gefahr und dem Grauen nur gesponnen, heute konnte es zu einer gefährlichen Wahrheit werden.
Amy Carry ging nicht weiter nach vorn, denn ihr war etwas aufgefallen. Sie ließ die linke Hand sinken, drehte den Kopf und schnupperte in den Wind hinein.
Sie roch etwas!
Es war ein bestimmter Geruch, der sie erreichte, und er stammte nicht eben aus einer Parfümerie. Unbekannt war er ihr trotzdem nicht, denn durch ihren Job war Amy mit einem gewissen Verwesenungsgeruch vertraut. Das kannte sie aus dem Betrieb und von den Abfällen her. Aber hier roch es auch nicht nach Fisch.
Eher nach Blut…
Ihr Herz schlug bei diesem Gedanken schneller.
Sie wartete noch.
Ein Schauer kroch über ihren Rücken hinweg. Es fiel ihr schwer, sich normal zu drehen und den Blick über den Burghof schweifen zu lassen.
Da war nichts.
Niemand hatte ihre Verfolgung aufgenommen. Und in der Mauerlücke, durch die sie gekommen war, lauerte auch kein Blutsauger, um ihr an die Kehle zu fahren.
Und doch war da dieser Geruch!
Unnatürlich auf einer Insel, in der eigentlich die Frische zu Hause war, wenn sich der Wind und der Geruch des Meeres vereinigten.
Er verschwand nicht!
Egal, wohin sie sich auch drehte, der verdammte Geruch war immer vorhanden, und genau das machte sie noch misstrauischer. Er drang von allen Seiten auf sie ein, und wehte ihr auch nicht aus dem Zugang jenseits des Unkrauts entgegen.
Aber von dieser Stelle aus war sie nicht in der Lage, die Ursache zu sehen. Deshalb ging sie aufs Geratewohl nach rechts zur Seite, denn irgendwo musste etwas sein.
Eine kleine Innenmauer stand. Sie lag im Schatten einer, größeren, und deshalb war für die junge Frau nicht genau zu erkennen, was sich da auf dem Boden ausbreitete.
Jedenfalls war es kein Steinhaufen.
Das Zeug war ein… ja, was war es denn?
Amy hielt den Atem an. Sie wollte wegsehen, aber sie starrte trotzdem hin und genau auf einen blutigen Klumpen, der vor kurzem noch ein lebendes Schaf gewesen war…
***
Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Es war nur ein Röcheln, das aus ihrer Kehle drang. So stand sie da, bewegte sich nicht und hielt den Kopf gesenkt, um den blutigen Rest anzuschauen.
Sie sah den Kopf und den Körper des Schafs. Der Kopf hing noch mit dem Körper zusammen, mehr allerdings war nicht zu sehen. Man hatte versucht, ihn abzureißen, es nicht ganz geschafft, aber es war eine Wunde entstanden, aus der viel Blut geflossen sein musste, das dann von einem Vampir getrunken werden konnte.
Tierblut - Menschenblut!
Es schien ihm gleich zu sein. Es gab auf dieser Insel keine Wölfe, die ein Schaf gerissen hätten. Sie hätten es auch zum Teil verspeist, aber aus diesem Körper waren keine Fleischstücke gerissen worden. Hier war es ausschließlich um das Blut gegangen, das zum Teil noch das Fell rot überzogen hatte.
Amy ekelte sich, aber sie musste da durch, daran gab es nichts zu rütteln. Sie ging jetzt nur davon aus, dass sie einen ersten Hinweis auf die Vampirbestie gefunden hatte.
Aber wo hielt sich der Bluträuber selbst verborgen?
Wieder strömte es kalt ihren Rücken hinab. Zudem fegte noch ein kurzer Windstoß in den Burghof hinein, packte Laub, schleuderte es vor sich her, und sorgte dafür, dass es raschelte und sich dieser Laut so anhörte, als hätten die Geister den Keller verlassen, um mit flüsternden Stimmen ihre Botschaften zu verbreiten.
Amy reckte den Hals. Trotzdem traute sie sich kaum, einen Blick hinter den Steinhaufen zu werfen, wo das Versteck ihrer Kindheit zu finden war.
Sie blickte sich um.
Niemand war da, aber sie zuckte trotzdem zusammen, weil sie einen Schatten über den Boden huschen gesehen hatte, der allerdings blitzschnell wieder verschwunden war. Es war nur ein großer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen gewesen.
Die junge Frau wusste genau, was zu tun war. Aber sie war keine Zehn mehr, sondern 26. Sie war erwachsen. Die Leichtigkeit der Kindheit gab es nicht mehr.
Hilfe holen?
Fast hätte sie selbst gelacht. Die Kerle auf der Insel würden ihr kein Wort glauben. Selbst ihr Vater hätte sie ausgelacht. Für ihn zählte nur die Anzahl der Fische, die er
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