1238 - Justines Blutfest
Grenze, und genau die war jetzt erreicht. Es war nicht nur seine Sache, gegen die Blutsauger anzugehen. In erster Linie ging es um sie, und nur das zählte für Amy. Sie war persönlich davon betroffen, denn sie glaubte nicht mehr daran, ihre Eltern als normal zu erleben. Sie befanden sich in den Fängen der blonden Bestie, die so stark nach dem Blut der Menschen gierte, und da waren sie die entsprechende Nahrung.
Sie rechnete sich ungefähr aus, wann John Sinclair die Gaststube erreicht hatte. Danach wartete sie noch etwa zwei Minuten, bevor sie die Knoblauchstauden zur Seite schob, um hindernisfrei aufstehen zu können. Sie lag in voller Kleidung auf dem Bett, und es machte ihr nichts aus, dass sie Schmutzspuren auf der Decke, dem Kopfkissen und dem Laken hinterlassen hatte. So etwas war jetzt nicht mehr wichtig.
Der alte Holzboden bewegte sich schon, wenn sie darüber hinwegging. Es gab auch Geräusche, die sich manchmal anhörten wie das Stöhnen eines Gefolterten.
Sie schlich so leise wie möglich, blieb für einen Moment an der Tür stehen und holte tief Luft. Erst als sie sich besser fühlte, legte sie die Hand auf die kühle Klinke und zog die Tür auf, wobei sich die Gänsehaut auf ihrem Rücken zusammenzog und beinahe an einer Stelle blieb. Auch das Öffnen war nicht geräuschlos über die Bühne gegangen, aber bis unten hin war das Geräusch wohl nicht gedrungen. Sie lauschte.
Erst nach einigen Sekunden glaubte sie, die Stimmen der Yard-Leute zu hören. Das beruhigte Amy. So schloss sie die Tür wieder und lief auf das Fenster zu.
Suko und John Sinclair waren ihr sympathisch. Sie nahm ihnen die Aufgabe auch ab. Zudem hatten sie schon Großes geleistet, aber sie selbst wollte auch etwas tun. Gewisse Dinge mussten eben geregelt werden, und Amy sah sich selbst auch als eine Helferin an, was eben die nahe Zukunft anging. Zudem war sie persönlich betroffen, aber sie war innerlich so stark, dass sie sogar die Schmerzen in ihrem Kopf vergaß. Sie wartete auf die vor ihr liegende Nacht, und sie wartete darauf, dass dort etwas Entscheidendes geschah.
Amy zog das Fenster auf.
Die kalte Luft drang zusammen mit den ersten Dunstschleiern in das Zimmer. Wie eine Statue blieb Amy am Fenster stehen, den Blick nach vorn in die wogende Suppe gerichtet.
Der Dunst war ein großer Dämpfer. Er ließ kaum andere Geräusche zu. Ihm kam es darauf an, alles zu verschlucken, und auch das Rauschen des Wassers hörte sich sehr entfernt an.
Die feuchte Kühle traf ihr Gesicht, und sie tat ihr gut. Amy hielt die Augen weit offen. Sie wusste, dass sich irgendwo dort draußen das Grauen versteckt hielt, und sie wünschte sich, dass es sein Versteck verließ und sich zeigte.
Hier stand sie. Hier schimmerte das Licht. Hier konnte sie warten. Hier würde sie versuchen, gegen das Grauen zu kämpfen. Und sie glaubte fest daran, dass ihre Eltern als Veränderte zurückkehren würden, denn sie wussten genau, wo das Blut zu holen war.
Das Blut der Tochter!
Mutter und Vater tranken es!
Amy schüttelte den Kopf. Es war für sie zu einer grauenvollen Vorstellung geworden, aber sie konnte nichts daran ändern.
Es ging nun mal um Tatsachen, und die waren nicht wegzudiskutieren.
Je länger sie am Fenster stand und in die undurchsichtige Landschaft starrte, um so mehr wechselten ihre Vorstellungen.
Sie dachte daran, dass sich im Nebel die Totengeister der ums Leben gekommenen Seeleute versteckten und nun die Chance bekamen, ihr Reich zu verlassen, um wieder durch die Welt der Menschen zu treiben. Dort würden sie sich wohlfühlen, dort würden sie umherirren und sich möglicherweise mit den Vampiren vereinen.
Es gab unzählige Spukgeschichten, die man sich über derartige Vorgänge erzählte, und ihr fiel auch ein, dass Halloween, das Fest der Geister und Masken, dicht bevorstand.
Wind wehte hier immer. Doch in dieser Nacht zeigte er sich von seiner schwachen Seite. Er war zwar nicht eingeschlafen, aber er besaß auch nicht die Kraft, den Nebel zu vertreiben.
Nur hin und wieder war es ihm möglich, einige Lücken in den Dunst zu reißen. Dann wurde die Sicht besser, und Amy sah weit entfernt einen schwachen, verwaschenen Lichtfleck.
Dort lagen die Fenster der Menschen, die in den anderen Häusern lebten und sich nicht ins Freie trauten. Vor ihren Türen hingen auch die Knoblauchstauden. Man hatte Amy versprochen, dass sie dort auch hängen bleiben würden. Frauen und Kinder waren leichter zu überzeugen als Männer, die als Fischer
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