1240 - Das Knochenkreuz
war mir klar, dass er direkt hinter mir stand. Er sagte nichts, und auch ich hielt in den folgenden Sekunden den Mund.
Erst als sich mein Freund leicht räusperte, drehte ich mich um. Er schüttelte den Kopf. »Es ist kaum zu glauben«, flüsterte er, »aber damit hätte ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht.«
»Das ist einmalig.«
»Richtig«, stimmte ich ihm zu. »Es ist einmalig, und ich frage mich jetzt, was van Akkeren in dieser Kirche will. Was hat er mit den Gebeinen vor?«
»Frag lieber, welche er sucht, John.«
»Das habe ich getan, und ich kann mir vorstellen, dass es die sind, vor denen wir stehen.«
»Du meinst das Kreuz?«
»Genau.«
»Wie kommst du darauf?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Sicher bin ich natürlich nicht, aber es wäre für ihn so etwas wie eine Trophäe auf dem Weg zu seinem endgültigen Ziel. Das kann ich mir schon vorstellen. Es ist immerhin ein Kreuz, wenn auch sehr verfremdet, und wenn er sich um dieses Kreuz kümmert und es stiehlt, dann hat er so etwas wie einen Sieg errungen. Könnte ich mir zumindest vorstellen.«
»Ist aber weit hergeholt.«
»Ich weiß. Aber van Akkeren ist auf Knochen scharf. Ich denke da nur an die Kirche unter Wasser. Nicht grundlos hat er dort suchen lassen. Wir müssen wirklich anders denken, unorthodox, würde ich Sagen. Jedenfalls hat er zumindest seine Vasallen hergeschickt. Den Pfarrer haben sie getötet, aber hier in der Kirche haben sie noch nichts gestohlen, nehme ich an.«
»Bist du dir da sicher?«
»Nein, aber wir könnten Annica fragen. Sie kennt die Kirche hier am besten.«
Ich drehte mich um, und es fiel mir schwer, mich von dem Anblick loszureißen. Annica wartete in der Nähe der Tür. Sie stand dort wie ein Denkmal und hatte die Hände am Rücken verschränkt.
»Nun?«, fragte sie mich, als ich vor ihr stehen blieb. »Was sagst du dazu?«
»Es ist einmalig. Aber das ist wohl untertrieben.«
»Stimmt.«
»Für dich ist es nichts Neues, Annica. Deshalb würde mich interessieren, ob dir vielleicht jetzt beim Besuch der Kirche etwas aufgefallen ist.«
Die Kollegin blinzelte mich durch die Gläser der Brille an.
»Wie meinst du das denn genau?«
»Ob es hier eine Veränderung gegeben hat, zum Beispiel. Es kann sein, dass jemand die Kirche betreten und bestimmte Teile gestohlen hat, die für ihn wichtig sind.«
Annica lächelte schmal. »Das ist nicht wenig, was du von mir verlangst, John. Es ist schon recht lange her, dass ich die Kirche zum letzten Mal besucht habe. An Einzelheiten kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.«
»War auch nur eine Frage. Kennst du denn jemanden, der sich bis aufs Detail hin auskennt?«
»Nicht genau«, gab sie zu. »Aber der Pfarrer wäre das vielleicht gewesen.«
»Und jemand aus dem Dorf?«
Sie überlegte. »Ja«, sagte sie dann nach einer Weile gedehnt.
»Es gibt in Hora einen Mann, der sich ebenfalls gut auskennt, was die Kirche hier anbetrifft. Er führt auch Besuchergruppen hindurch. Jedenfalls ist das früher so gewesen. Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt oder schon längst das Zeitliche gesegnet hat.«
»Das lässt sich herausfinden.«
»Stimmt.« So ganz einverstanden war sie nicht. »Aber wichtiger sind doch der oder die Killer des Pfarrers.«
»Das steht außer Frage. Der Mord ist zweifellos schlimm. Nur frage ich mich, aus welchen Gründen man diesen Menschen so brutal umgebracht hat. Was steckt dahinter? Selbst für die andere Seite muss es ein Motiv geben. Sie hat nicht grundlos getötet, verstehst du? Bei näherem Nachdenken komme ich zu dem Schluss, dass der Pfarrer etwas gewusst haben muss, was seinen Mördern unbekannt, aber für sie sehr wichtig war. Es hängt mit der Knochenkirche zusammen und mit einem Gegenstand, der hier zu finden ist. Davon gehe ich zumindest aus.«
Annica hob die Schultern. »Ich wüsste wirklich nicht, was das sein könnte.«
»Nicht das Kreuz?«
»Ja, auch.«
»Es sticht ja hervor. Es ist nicht zu übersehen. Es ist etwas Besonderes, und da könnte es sein, dass es auch etwas Besonderes an sich hat. Damit meine ich nicht unbedingt sein Aussehen, sondern noch etwas mehr, wenn du verstehst.«
»Nicht genau.«
»Zum Beispiel, dass die Knochen von bestimmten Personen stammen.«
»Das waren alles Pesttote«, flüsterte Annica. Vor ihren Lippen bildeten sich helle Wolken, so kalt war es zwischen den Mauern und den Knochen.
»Auch unter ihnen kann es Unterschiede gegeben haben. Denk daran, dass die Menschen nicht gleich sind.
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