1240 - Das Knochenkreuz
ansetzen? Ich schaute an dem Kreuz in die Höhe. Der Balken mündete in den mit Knochen umrandeten Schädel, der für mich wie der Mittelpunkt eines Sterns aussah.
Aber es gab ein Ende des Knochenkreuzes, und dort wollte ich den Test starten.
Plötzlich wurde es um mich herum noch stiller. Auch Annica und Suko wussten um die Brisanz des Augenblicks und hielten sich mit Bemerkungen zurück. Sie warteten darauf, dass ich endlich eingriff.
Zwei Sekunden später war es so weit. Ein Kreuz berührte ein Kreuz, und drei Zuschauer hielten plötzlich den Atem an…
***
Ich war am nächsten dran. Die Berührung spürte ich ebenfalls. Es war zunächst nur dieses leichte Anticken gewesen, aber ich zog das Kreuz nicht zurück, weil ich plötzlich der Überzeugung war, dass ich erst einen Anfang erlebte.
Und ich hatte Recht!
Plötzlich durchrieselte meine rechte Hand ein Strom, der von dem Kreuz ausging. Aber er war nicht nur einseitig zu spüren, er lief auch in die entgegengesetzte Richtung, und das war nicht zu spüren, sondern zu sehen und so etwas wie ein Phänomen.
Durch die bleichen Knochen rann der Strom den Balken aus Gebeinen hoch. Es war ein helles Licht, fließend wie Wasser, nur in entgegengesetzter Richtung.
Dann passierte es!
Ich wusste nicht, ob ich darauf gewartet hatte, konnte es mir allerdings vorstellen. Vielleicht hatte ich es tief in meinem Innern erhofft, doch das jetzt mit den eigenen Augen zu sehen, war schon etwas anderes.
Der Strom aus Licht wurde unterbrochen, weil einige Knochen waagerecht in den Balken hineingelegt worden waren.
Etwa auf halber Höhe war dies geschehen und dicht unterhalb der gebogenen Rippenknochen.
Genau dort schwärzte das Gebein ein. Es wurde dunkler, es fing an zu riechen, und wenig später sah ich eine rote Masse, die sich an dieser Stelle immer mehr ausbreitete und die Knochenteile in der Mitte des Balkens tatsächlich zum Glühen brachte.
Ein Phänomen und zugleich eine Wahrheit, die ich verdammt genau verstand.
Dieses Kreuz bestand zwar aus Gebeinen, aber zugleich waren es nicht nur die Gebeine einer Person, sondern die von verschiedenen. Man hatte deren Gebeine genommen und sie zu diesem Kreuz zusammengesetzt. Aber es waren nicht nur welche dabei, die es auch verdient hatten, das Zeichen des Sieges zu bilden, sondern auch Todfeinde, und das bekam das Kreuz aus Knochen zu spüren.
Die von meinem Talisman ausgehende Magie hatte es ans Licht gebracht. Die anderen Knochen glühten aus, sie verbrannten zu Asche, und das helle Licht rann weiter.
Es huschte weiterhin in die Höhe und gab dem Knochenkreuz einen wunderbaren Glanz, der sich bis hoch zu dem bleichen Schädel zog und sich dort weiter ausbreitete, wobei er in die langen Knochen hineinrann, die das Gebilde umrahmten.
Es war ein Bild, das mir gut tat. Das mir auch Recht gab. Ich befand mich auf dem richtigen Weg. Das Knochenkreuz war etwas Besonderes und für die Baphomet-Templer sehr interessant. Vielleicht wollten sie einen Gegenpol bilden, aber meine Gedanken flossen weg, denn mein Staunen war noch nicht beendet.
Zwischen den sieben langen Knochenstäben befanden sich andere Gebeine dicht zusammengedrückt, die die Aufgabe hatten, dem oberen Gebilde Halt zu geben.
Auch dort holte das helle Licht das Böse hervor. Wieder passierte das Gleiche wie in der Mitte des Kreuzes. Zuerst graute die Masse ein, dann sahen wir das rote Schimmern, das zu einem starken Glühen wurde, und schließlich verbrannten die Stücke zu Staub, der nach unten rieselte.
Beim ersten Mal war mir das Knirschen nicht so aufgefallen.
Das änderte sich jetzt. Ich hörte es sehr deutlich. Sand schien über Sand zu reiben, und tatsächlich rann der Staub in leichten Fahnen nach unten.
Mehr passierte nicht…
Es reichte mir allerdings auch. Ich löste den Kontakt und drehte mich langsam um.
Keiner sprach ein Wort. Annica Dobel war blass geworden und hatte sich an Sukos Arm festgeklammert wie an einer Stütze. Dabei schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
Ich nickte den beiden zu, während ich das Kreuz in meiner Jackentasche verschwinden ließ. »Das also ist es gewesen«, sagte ich mit leiser Stimme.
»Was ist es gewesen?«, flüsterte Annica.
»Die Mischung aus Dunkelheit und Licht. Im übertragenen Sinne gesagt.« Ich hob die Schultern. »Es waren nicht nur alles normale Menschen, deren Knochen man hier in der Kirche findet. Das hat mir mein Kreuz leider bewiesen.«
Die Kollegin ließ meinen Freund los und trat sehr dicht
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