1251 - Die Heilige und die Hure
oder nicht?«
Ich war gespannt auf die Erwiderung und musste mich leider zurücknehmen, denn sie sagte nichts.
Sie schloss sogar ihren Mund, als wollte sie mir andeuten, dass ihr Schweigen jetzt länger dauerte.
»Spürst du sie nicht mehr?«
»Ich kann sie nicht sehen, John. Sie ist in der Dunkelheit vergraben, ebenso wie ich.«
»Aber die Erinnerung ist da.«
»Ja.«
»Und das Fühlen auch?«
»Sie ist eine wunderbare und gütige Frau. Sie ist sehr schön und auch so herzlich.«
»Könntest du sie beschreiben?« Auch wenn Julie die Frau nicht sah, ich versuchte es trotzdem.
»Es ist so schwer. Sie ist nicht nahe bei mir. Aber ich will es versuchen. Sie gibt mir ein so gutes Gefühl.«
»Kannst du sie denn sehen?«
»Nein, aber ich erinnere mich. Die Erinnerung ist ein Teil meines Ichs, meiner Selbst. Ich sehe sie nicht, aber ich weiß, dass sie sehr schön ist und dunkle Haare hat. Ein helles Gesicht, eine so reine Haut und strahlende Augen.«
Das war schon etwas. Ich spürte, dass ich immer nervöser wurde. Ich musste schlucken, denn in der Kehle hatte sich ein Kloß festgesetzt. Es hatte die Frau gegeben, es hatte sie wohl auch in Europa gegeben nach ihrer Flucht aus Vorderasien.
Julie sagte nichts mehr. Aber sie lächelte. Die durch die Hypnose hervorgeholte Erinnerung musste ihr einfach gut tun, und ich hoffte, dass sie mir noch mehr Informationen preisgab.
»Wenn du dich an sie erinnerst, kannst du mir auch sagen, wo sie sich aufgehalten hat?«
»Nein, ich sehe nichts. Ich sehe nur sie als schwachen Schattenriss. Meine Augen sind geschlossen. Ich habe den Ort nicht finden können, aber sie ist da.«
Ich ließ trotzdem nicht locker. Kann es das Land der Gallier gewesen sein? Frankreich?
»Sie ist geflohen.«
»Gut.«
»Nach Frankreich?«
»Das andere Land war gefährlich. Sie ist zu nahe bei den Männern gewesen.«
Ich runzelte die Stirn. Mein Herz klopfte plötzlich schneller. Es rann mir heiß und kalt über den Körper, denn mir wurde nach einigem Nachdenken klar, dass es sich bei diesen Männern nur um bestimmte Personen gehandelt haben konnte.
Für mich waren es die Apostel!
Einen Eid hätte ich darauf nicht abgelegt. Ich konzentrierte mich wieder auf Julie. Schon beim ersten Blick bemerkte ich, dass sie nicht mehr so ruhig war wie noch vor einigen Sekunden. Sie stöhnte nicht nur auf, sie bewegte sich auch unruhig auf ihrem Liegeplatz, und sie schüttelte einige Male den Kopf.
Ich blieb ruhig. Abwarten, bis sie sich beruhigt hatte. Das trat leider so schnell nicht ein, und ich befürchtete, dass Julie aus ihrem Zustand erwachte.
»Hör mir zu, Julie, hör mir zu, denk an das Kreuz. Es soll dir Kraft geben. Es soll dir die Augen öffnen. Es soll dich auch tiefer in die Erinnerung zurückführen. Hast du mich verstanden?«
»Ich habe dich gehört.«
»Das ist großartig. Dann sag mir jetzt, ob du dich noch an etwas erinnerst.«
»Nein, nein. Ich sehe sie auch nicht. Es sind Gedanken und Gefühle, nichts anderes.«
»Kannst du nicht erkennen, wohin sie gegangen ist? Welchen Weg sie genommen hat?«
»Nein, das ist nicht möglich. Ich weiß es nicht. Bitte, ich weiß es nicht.«
»Du kannst noch immer nichts sehen?«
»Es sind nur Gedanken, die ich empfange. Ich sehe nichts. Ich bin geborgen, aber die Gedanken sind da. Sie werden mir geschickt als Erinnerung.«
»Aber du hast dich doch an sie erinnert. An ihr Gesicht und an ihre Haare.«
»Ja…«
»Dann versuche es bitte, Julie. Versuche alles. Senke dich noch tiefer hinein. Hole nicht nur Menschen in deine Erinnerung zurück, sondern auch anderes. Eine Umgebung, eine Landschaft, eine alte Stadt, ein Bauwerk, eine Grotte…«
Den letzten Begriff hatte ich mir bewusst bis zum Schluss aufgehoben, denn er war wichtig. Der Legende nach war Maria Magdalena in einer Grotte gestorben. Kirchen hatte es kurz nach der Zeitrechnung noch nicht gegeben. Wer damals Christ gewesen war, der hatte sich versteckt halten müssen und nicht nur in der Umgebung des Heiligen Lands, sondern auch woanders, wie in Südfrankreich.
»Was siehst du?«
»Ich sehe nichts mehr. Ich erinnere mich auch nicht. Es ist alles so finster geworden. Man hat es mir genommen. Das schwimmt alles weg. Auch das Gesicht. Es löst sich auf. Sie… sie liebt mich nicht mehr. Es geht vorbei. Es ist dahin… dahin… wie ein Wind. Einfach weg. Ich kann nichts mehr tun. Ich… ich…«, aus ihrem Mund drang ein lang gezogener Seufzer, dann war es still. Nur ihr Atmen
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