126 - Luziferas Horror-Maske
wunderte sich selbst, dass er nicht schrie, sondern nur die Augen
aufriss, mit Entsetzen seine wahre Situation erkannte und mechanisch nach allen
Seiten zu greifen begann, in der Hoffnung, einen Halt zu erwischen. Er fühlte
aus der Schachtwand herausragende Steine, über die seine Fingerspitzen
hinwegrasten. Festhalten war unmöglich. Mit Schultern und Armen schlug er gegen
das Tau, das mitten in der Öffnung hing. Seine Chance!
In diesen Sekunden, wo er voller
Ratlosigkeit, Ängste und Verzweiflung war, fand er dennoch die Kraft zu einem
logischen Entschluss. Seine Hände krallten sich in das Seil. Im ersten Moment
rutschte er daran herunter, seine Muskeln und Sehnen spannten sich, und dann
ging ein Ruck durch seinen Körper, dass er meinte, von mehreren Schwerthieben
gleichzeitig getroffen und geteilt zu werden. Im nächsten Moment hing sein
ganzes Gewicht an dem Seil. Das spannte sich. Oben in dem verrosteten Rad gab
es einen Knacks, und das Tau rollte - mit dem Körper daran - blitzschnell ab.
Rickert stöhnte und merkte, wie sein Sturz, der kurz gebremst worden war,
wieder weiterging. War das Seil gerissen?
Nein! Es war stramm, nur noch der letzte Rest
rollte ab. Hoffentlich hielt das Material von Seil und Rad den Ruck aus. der im
nächsten Moment erfolgen musste.
Rickert wusste nicht, wie tief er gestürzt
war, als der erwartete Ruck erfolgte. Er meinte, die Schultergelenke würden ihm
ausgekugelt. Brennender Schmerz raste durch seinen Körper und doch hatte er
sich noch so weit unter Kontrolle, dass er den Aufschrei verbiss und sein
Schmerz sich in qualvollem Stöhnen ein Ventil schaffte. Es knackte im Seil, in
seinen Knochen und Muskeln, er pendelte hin und her und stemmte sich mit den
Beinen gegen die moosbewachsene Schachtwand, um die Stellung seines Körpers zu
verändern und das Pendeln zu stoppen. Er atmete hastig. Jeder Atemzug gab ihm
einen Stich in die Lungen. Er spürte süßlichen, warmen Geschmack im Mund.
Blut... Entweder hatte er sich auf die Zunge gebissen oder das Blut kam aus der
Lunge, da er durch das heftige Rettungsmanöver sich einen Schaden zugezogen
hatte.
Doch diese Dinge waren jetzt unwichtig.
Wichtig war, dass er lebte. Er schwebte etwa einen halben Meter über dem Wasser
und wäre eingetaucht, wenn er im richtigen Moment nicht geistesgegenwärtig die
Beine angezogen hätte. Rickert starrte in die Tiefe und ihm war, als schwimme in dem eiskalten Brunnenwasser ein dunkler Körper. Was so
aufgeplustert wirkte, konnte Kleidung sein, die vom Wasserauftrieb gebauscht
wurde. Wäre es nur ein wenig heller gewesen, hätte er erkennen können, was da
im Wasser lag.
Die Leiche einer kleinen, sehr alten Frau,
der man in dem Gebirgsdorf Elmusio den Namen Luzifera gegeben hatte ...
●
Martin Rickert blickte in die Höhe Die
schwarze Schachtwand stieg steil zu allen Seiten empor und schien sich ganz
oben zu verjüngen. Die Öffnung, dunkel gegen den nächtlichen Himmel, wirkte
klein und fern. „Oh mein Gott“, kam es wie ein Hauch über Rickerts bleiche
Lippen. Er musste husten und spuckte Blut in den Brunnen. „Was für ein Weg ...“
Aber er musste es versuchen. In erster Linie
musste er der geheimnisvollen Gestalt mit der schrecklichen Horror-Maske
zuvorkommen. Der Unheimliche durfte nichts von seinem Befreiungsversuch merken,
vor allem nicht rechtzeitig bemerken, dass sein Opfer noch lebte.
Diese Gefahr schien nicht gegeben. Am
Brunnenrand oben zeigte sich kein Kopf. Der Täter war sich seiner Sache
offensichtlich völlig sicher und verlor keine unnützen Minuten mit Aufenthalt.
Rickert begann, sich in die Höhe zu hangeln.
Mit den Füßen stemmte er sich dabei gegen die Wand, damit sein Körpergewicht
nicht an den Armen hing. Stück für Stück ging es aufwärts. Nach drei Metern
legte er die erste Pause ein. Er musste erkennen, dass der Schacht über zehn
Meter tief war. Am Ende des Seils baumelte der rostige Eimer. Er hing tief im
Wasser und war randvoll. Das Seil lag schräg über dem scharfkantigen Rand der
Brunnenmauer und manchmal knirschte und knackte es in den alten Fasern. Einige,
die schon durchgescheuert waren, platzten unter dem Gewicht, das dranhing.
Martin Rickert hielt eisern durch, obwohl jeder Zentimeter, den er sich in die
Höhe hangelte, nun zur Qual wurde. Er meinte, die Arme würden ihm brechen, und
der Wunsch, sich endlich irgendwo in eine Ecke zu setzen oder einfach fallen zu
lassen, wurde unendlich groß in ihm. Schweiß rann ihm vom Gesicht,
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