1262 - Die Sauger
auch die Augen trocken und stöhnte. Es war schlimm, denn die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Sie dehnte sich, sie zog sich hin, und Tinas Gedanken wurden unterbrochen, als sie plötzlich ein hässliches Kichern hörte.
»Nein, nicht das«, flüsterte sie und drehte den Kopf nach links.
Die beiden alten Frauen schnarchten munter weiter. Nur die Stöhnerin war erwacht, und sie hatte auch gekichert. Jetzt war sie still, und das freute Tina.
Ein Irrtum, wie sich schnell herausstellte. »He, Kleine, was ist los?«
»Nichts.«
»Warum weinst du dann?«, flüsterte die Frau.
»Nur so.«
»Ach, hör auf. Du bist jung, du brauchst nicht zu weinen. Guck mich an, ich komme aus diesem Laden nur noch mit den Füßen nach vorn heraus. Aber du bist jung, du bist auch nicht krank und nur etwas verletzt. Du hast dein Leben noch vor dir.«
»Ja, ich weiß…«
»Dann weine nicht.«
»Ich musste es aber tun.«
»Dann sei froh, denn richtig weinen kann manchmal sehr gut sein, meine Liebe.«
»Ja, ich weiß.« Tina strich über ihr Haar, das nach dem Bad eigentlich nie so richtig trocken geworden war. Auch jetzt lag es ziemlich glatt auf ihrem Kopf, und es fühlte sich verschwitzt an. Sie konnte daran nichts ändern, ebenso wenig wie an dem Druck in ihrer Brust. Es war einfach zu viel verkehrt gelaufen, und sie wollte es nicht, aber wieder stiegen die Bilder in ihr hoch.
Plötzlich kehrte die Angst zurück. Tina drehte den Kopf und blickte starr auf das Fenster. Das Rollo war vor die Scheibe gezogen worden. So konnte sie nicht nach draußen schauen, wo die Dunkelheit noch lag, aber sie stellte sich auch vor, dass alles von einem Augenblick zum nächsten anders wurde. Zwar hatte man ihr gesagt, dass alles vorbei wäre - und das war es auch dem Augenschein nach -, aber damit konnte sie sich nicht zufrieden geben. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass noch etwas nachkam. Wer sagte ihr denn, dass es nur eines von diesen verdammten Monstren gab? Niemand. Es konnte durchaus sein, dass es noch ein zweites, ein drittes und noch unzählige weitere existierten.
Die alte Frau, von der nur der Kopf zu sehen war, weil er sich auf dem Kissen schwach abmalte, stellte wieder eine Frage. Sie hatte es geschafft, ihre Mitpatientin zu beobachten und hatte sich ihre Gedanken über sie gemacht.
»Wovor hast du Angst?«
Tina schrak zusammen. »Ich? Angst?«
»Ja, du hast Angst. Ich spüre es, weißt du? Wenn man so alt ist wie ich, dann hat man seine Erfahrungen im Leben sammeln können.«
Tina räusperte sich und lachte zugleich. »Ja, Sie haben Recht. Ich habe Angst.«
»Es ist gut, wenn man es sich eingesteht. Willst du darüber sprechen?«
»Nein!«
Die alte Frau lachte. »Kind, du solltest nicht so spontan sein. Es ist besser, wenn du darüber redest. So etwas lockert auf. Man muss mit der Angst umgehen können.«
»Das weiß ich. Aber das sagt sich so leicht.«
»Dann rede ruhig. Ich höre dir gern zu. Sieh mal, ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich liege hier und warte auf meinen Tod. Man hat mich schon zwei Mal abgeschrieben, aber ich bin immer wieder dem Knochenmann aus den Klauen geglitten. Eigentlich müsste ich ja Angst vor dem Tod haben, aber die habe ich nicht. Nein, ich lebe doch, ich lebe noch, und ich will jeden Augenblick auskosten. Deshalb versuche ich auch, so wenig wie möglich zu schlafen.«
Plötzlich musste Tina lachen, als sie das hörte. Irgendwie bewunderte sie den Mut dieser Frau, die dafür sorgen wollte, dass ihre Probleme möglichst klein blieben.
»Was ist mit deiner Angst, Kind?«
»Lassen Sie mal.«
»Nein, das lasse ich nicht. Du solltest darüber reden. Das tut gut, glaube mir.«
Tina senkte den Kopf. Sie dachte über die Worte der alten Frau nach, deren Namen sie nicht mal wusste. Dann hatte sie das Gefühl, als hätte jemand einen Schleier weggezogen. Ja, vielleicht war es sogar ganz gut, wenn sie über ihre Probleme sprach. Möglicherweise konnte die Frau ihr sogar einen Ratschlag geben.
»Nun?«
Tina Steene zierte sich noch. »Aber es ist keine gute Geschichte. Sie werden sie kaum glauben.«
»Keine Sorge, ich bin einiges gewohnt. Mich kann nichts mehr erschüttern. Wer weit über achtzig Jahre alt geworden ist, der sieht das Leben mit anderen Augen.«
»Kann sein.« Tina nickte. Sie überlegte noch. Das Krankenzimmer kam ihr plötzlich wie ein Gefängnis vor. Überhaupt war das Krankenhaus keine Wohltat für einen Menschen. Es war einfach zu alt. Man hätte es nicht nur außen
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