1262 - Die Sauger
dann reichte.
»Danke.« Die alte Frau lächelte schmallippig. »Denk an meine Worte. Nimm sie mit für dein weiteres Leben, das sicherlich noch lange dauern wird.«
»Ich hoffe es.«
Tina Steene atmete tief durch. Vieles ging ihr durch den Kopf. Sie schaute zum Fenster hin, vor dem noch immer das Rollo hing. Es war nicht besonders dicht und bestand aus einem hellen Stoff.
Nach draußen konnte sie eigentlich nicht blicken, es war auch nichts zu sehen. Das hatte sie längst einige Male festgestellt, und trotzdem nahm sie jetzt eine Bewegung wahr.
Wirklich hinter dem Fenster?
Tina erschrak. In ihrem Innern krampfte sich etwas zusammen. Sie hatte das Gefühl, einen Tritt gegen die Brust zu bekommen. Sie wusste auch, dass sie sich nicht geirrt hatte, aber sie konnte nichts sagen oder tun. Sie war nicht mal in der Lage, sich zu bewegen und stand starr auf dem Fleck.
Das fiel auch der alten Frau auf. »He, was ist denn?« fragte sie leise.
»Da… da… draußen. Vor dem Fenster. Da bewegt sich was. Ja, das stimmt wirklich.«
»Meinst du?«
»Ich sehe es.«
»Gut, ich glaube dir. Willst du nicht nachschauen?«
Tina schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, das werde ich nicht. Ich kann es nicht, denn ich habe Angst.«
»Ja, ich weiß, was du denkst. Du glaubst daran, dass dein Verfolger dich gefunden hat.«
Tina nickte. Sie schluchzte wieder auf. Sie stöhnte auch und hielt die Augen in den nächsten Sekunden geschlossen. Sie hoffte, einer Täuschung erlegen zu sein. Als sie sich endlich wieder traute, die Augen zu öffnen, sah sie sofort zum Fenster und stellte fest, dass sich dort nichts mehr bewegte.
Die alte Frau hatte Tina genau beobachtet. »Ist es noch da?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht genau.«
»Dann geh hin und schau nach.«
»Nein!«
»Nicht so spontan, Kleine. Du musst es tun. Schon allein, um dich aufzurichten. Es ist wichtig, glaube es mir. Hingehen und nachschauen. Sich nicht verkriechen. Verstehst du das?«
»Ja, ja…«
»Dann bitte.«
Tina konnte der Aufforderung einfach nicht widerstehen, und so bewegte sie sich auf leisen Sohlen dem Ziel entgegen. Es waren nicht mehr als zwei Schritte, dann hatte sie es erreicht. Sie blieb stehen. Das Rollo befand sich dicht vor ihrem Gesicht. Sie glaubte sogar, es riechen zu können, denn es verströmte einen irgendwie säuerlichen Geruch.
Gerade jetzt kamen ihr wieder die schlimmen Szenen des Überfalls in den Sinn. Ihr wurde kalt, sie hatte Mühe, normal zu atmen, aber hinter dem dünnen Rollo war nichts mehr zu sehen.
Tina Steene fiel ein Stein vom Herzen. Scharf atmete sie aus. Es war verrückt, sich derartige Gedanken zu machen. Damit brachte man sich nur selbst in eine Stresslage.
Am Rollo hing ein dünnes Band. Es war zu einer schmalen Kordel gedreht worden und besaß an seinem Ende einen Knoten. Dort fasste Tina an. Völlig beruhigt war sie noch nicht, aber es hatte auch keinen Sinn, wenn sie jetzt einen Rückzieher machte. Außerdem hätte sie sich vor der anderen Patientin lächerlich gemacht.
Und so zog sie das Rollo kurz nach unten, überwand so den Widerstand und ließ es dann los.
Es schnellte hoch.
Tina bekam freie Sicht auf das nicht sehr große Fenster. Dahinter lag noch immer die Dunkelheit der späten Nacht. Nicht mal Sterne schimmerten am Himmel, weil sich eine Decke aus Wolken vor die Gestirne gelegt hatte.
Der Schatten war nicht mehr da!
»Siehst du was, Kind?«
»Nein - zum Glück.«
»Na bitte. Was habe ich dir gesagt? Man muss seinen inneren Schweinehund überwinden. Sieh den Tatsachen ins Auge. Das habe ich meinen Schülern und Schülerinnen auch immer gesagt. Ich war mehr als dreißig Jahre Lehrerin und habe nach meiner Pensionierung noch Nachhilfe gegeben, um vom Gehirn her nicht einzurosten. Da hat man schon seine Lebenserfahrungen sammeln können…«
Die Frau sprach weiter, aber Tina hörte nicht mehr hin. Sie stand einfach nur am Fenster, doch so simpel war es nicht, denn in ihrem Sichtbereich passierte etwas.
Eine Bewegung in der Dunkelheit!
Plötzlich schrillte wieder die Alarmglocke in ihrem Kopf. Sie hatte das Gefühl, vor dem Zerplatzen zu stehen. Da flog etwas durch die Luft, und das war kein Vogel.
Tina sah die mächtigen Schwingen, die sich zwar gemächlich, aber doch irgendwie zackig auf und ab bewegten, und sie sah zwischen ihnen eine Fratze, auch wenn es finster war.
Es gab nur eine Lösung: Die Bestie hatte sie gefunden!
***
Der Gedanke lähmte Tina. Sie wusste selbst nicht, warum
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