1263 - Das Wissen der Toten
Schultern gleiten ließ und auch ihre Jacke auszog, kümmerte sich Jane um den Spiegel. Er stand in einem Gestell, sodass er auch gekippt werden konnte.
Die Fläche selbst sagte nichts aus, abgesehen davon, dass sie nicht so glatt war wie die Flächen der modernen Spiegel, die in den Bädern der Menschen hingen.
Für Jane sah er völlig normal aus, aber sie dachte an den Film, den sie gesehen hatte und wurde auch wieder daran erinnert, als sie den bunten Ball entdeckte, der auf der Sitzfläche eines Stuhls lag.
Der Stuhl stand direkt vor dem Spiegel. Auch das war Jane Collins nicht unbekannt. Sie fand es gut, dass sich nichts verändert hatte.
Alexa hatte sie beobachtet. »He, was hast du? Stört dich der Spiegel?«
»Nein, warum?«
»Weil du ihn so anschaust.«
»Das hat damit nichts zu tun. Er stört mich bestimmt nicht. Ich finde ihn nur interessant.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Er ist sehr alt.«
Jane nickte. »Das sieht man.«
»Ich liebe ihn. Er ist ein Erbstück, und meine Eltern haben gesagt, dass er später, wenn sie nicht mehr sind, an mich weitervererbt wird. Das jedenfalls haben sie mir versprochen, und ich glaube auch, dass sie es halten werden.«
»Wäre ja toll.« Jane lächelte dem Mädchen zu. »Wie ich dich einschätze, sitzt du gern vor dem Spiegel.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Kann ich dir sagen. Der Stuhl steht so, dass du in den Spiegel direkt hineinschauen kannst, wenn du sitzt.«
»Klasse beobachtet.«
»Und sogar einen Ball hast du.«
»Stört er dich?«
Jane lachte leise. »Nicht im Geringsten. Ich finde ihn sogar stark, weil er so etwas wie einen Farbtupfer in diese Einrichtung bringt. Es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Der bunte Ball auf dem alten Stuhl. Könnte man fast so ansehen.«
»Ich spiele gern mit ihm. Aber du hast Recht, Jane, der Stuhl ist wirklich mein Lieblingsplatz hier im Raum. Dort sitze ich und lasse meine Gedanken spazieren gehen, während ich in den Spiegel schaue. Ist das nicht toll?«
»Wenn man Spaß daran hat, ist eben alles toll.«
»Du solltest es ausprobieren.«
Jane war auf der Hut. Sie ließ sich auch von dem harmlosen Lächeln des Mädchens nicht täuschen.
»Was hätte das für einen Sinn, wenn ich mich auf den Stuhl setze?«
»Dann könnten wir reden.«
»Ach, so ist das.« Jane deutete auf das Möbelstück mit der hohen und geschlossenen Lehne. »Du meinst, dass ich sitzen soll, während du mir die Fragen im Stehen beantwortest.«
»Ja.«
»Hat das einen Sinn?«
»Weiß nicht genau. Aber der Stuhl ist eben mein Lieblingsplatz. Dort sitze ich, schaue in den Spiegel und kann dabei wunderbar nachdenken. Dann habe ich immer das Gefühl, als würde sich mein Kopf öffnen und so viel in sich aufnehmen. Ich merke dann, dass ich schon mehr weiß als die anderen Schüler.«
»Und du meinst, das würde mir auch so gehen?«
»Kann sein.«
»Dann versuche ich es«, sagte Jane und schaute das Mädchen an. »Ich habe das Gefühl, dass dieser Spiegel für dich viel mehr ist als nur ein normaler Gebrauchsgegenstand.«
»Stimmt genau. Woher weißt du das?«
»Das ist einfach, Alexa. Man schaut hinein, aber man sieht sich kaum. Die Fläche ist doch nicht glatt. Sie sieht sehr verschwommen aus, verstehst du?«
»Das haben alte Spiegel so an sich. Wenn man in sie hineinschaut, ist es nicht schlimm, wenn man sich nicht sieht. Aber man kann so wunderbar seinen Gedanken nachhängen. Man kann träumen, und für mich ist der Spiegel zu einem richtigen Freund geworden. Ich liebe ihn. Ich würde ihn nie hergeben.«
Jane nickte bedächtig. »Ja, ja«, sagte sie. »Spiegel haben schon ihre eigene Geschichte. Nicht alle, verstehst du? Aber einige schon. Und seit ihrer Erfindung haben die Spiegel die Menschen schon immer fasziniert. Für manche waren sie sogar der Eintritt in eine andere Welt. Darüber habe ich recht viel gelesen.«
»Meinst du das wirklich so?«
»Ja.« Warum sollte ich lügen?
»Interessant.« Der etwas lauernde Ausdruck auf Alexas Gesicht verlor sich, als sie mit der rechten Hand auf den Stuhl deutete. »Jetzt haben wir aber genug geredet. Setz dich bitte hin.«
»Wie du meinst.«
Zuerst musste Jane den Ball anheben. Es war mit Erinnerungen verbunden, als sie das runde Ding zwischen ihre Hände nahm. Sie musste daran denken, wie er im Video drei Mal auf getickt war, bevor er innerhalb des Spiegels verschwunden war.
Sie nahm normal Platz. Im Rücken spürte sie die hohe Lehne, und den Ball hatte sie auf ihren Oberschenkel
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