1265 - Im Visier der Schattenhexe
stehen bleiben. Mit schon sanft gesetzten Schritten kam es vor. Beim Auftreten war es so gut wie nicht zu hören. Es schlich heran wie ein Panther.
Glenda konnte und wollte nicht wegsehen. Es gibt immer einen Punkt, an dem man sich den Tatsachen stellen muss. Und das hier war eine Tatsache, auch wenn es auf sie noch immer wie ein böser Albtraum wirkte. Sie traute sich auch nicht, das Wesen anzusprechen, das den hellen Schädel auf der linken Handfläche liegen hatte und ihn anschaute. Zugleich blickte es auch an ihm vorbei und konzentrierte sich auf Glenda.
Reiß dich zusammen!, hämmerte sich Glenda ein. Zeig nicht, wie dir tatsächlich zu Mute ist. Vielleicht will man nichts von dir. Du gehörst nicht zu den anderen.
Das Wesen blieb stehen. Es brachte kein Licht mit, aber es stand so dicht bei Glenda, dass sie es gut erkannte. Das Gesicht wirkte klassisch geschnitten. Es hätte wirklich einem Mann ebenso wie einer Frau gehören können. Etwas knochig war es. Die Nase trat deutlich hervor, der breite Mund fiel ebenfalls auf, und da die dunkle Haarflut nach hinten gekämmt war, sah die Stirn höher aus als normal. Unter dem engen Kleid malten sich die beiden Brusthügel ab.
Dunkle Augen bewegten sich, als Glenda von oben bis unten angeschaut wurde. Noch blieben die Lippen geschlossen. Ein Zeichen, dass der oder die Andere nicht sprechen wollte.
Glenda konnte an dem hellen Schädel einfach nicht vorbeischauen. Er schimmerte noch feucht. Er war so glatt. An der Stirn an zwei Stellen leicht ausgebeult, und plötzlich begann das Wesen zu schreien. Dann warf es den Schädel mit voller Wucht zu Boden, sodass er dort zersplitterte.
Glenda war bei dieser Reaktion zusammengezuckt und hatte die Arme unwillkürlich hochgerissen, aber sie wurde nicht geschlagen und nicht mal berührt.
Und dann erwischte sie die nächste Überraschung, denn das Wesen sprach sie mit menschlicher Stimme an.
»Wer bist du?«
***
Glenda wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Okay, sie hätte eine Antwort geben können, doch sie kam ihr nicht über die Lippen. Sie hatte sie nicht mal in ihrem Kopf formuliert, so überrascht war sie von der Frage.
Sie lauschte noch der Stimme nach, die sicherlich der Gestalt gehörte, aber sie war so weit weg gewesen, als hätte ein Zweiter irgendwo im Hintergrund gesprochen.
»Du gehörst nicht hierher - oder?«
Glenda schüttelte den Kopf.
»Du bist ein Mensch!«
»Ja.« Sie war froh, dass das Wesen mit ihr sprach, denn wer sich unterhielt, der wollte nicht töten.
Der war ebenfalls überrascht und musste etwas in Erfahrung bringen.
»Sag mir, wer du bist.«
»Ich heiße Glenda Perkins…«
»Stimmt das?«
»Warum sollte ich lügen?«
»Klar«, flüsterte die Gestalt, »warum solltest du das? Menschen lügen zwar gern, aber dir sehe ich an, dass du die Wahrheit gesagt hast. Du gehörst nicht zu den Engeln und auch nicht zu den Blutsaugern. Du hast nur Pech gehabt.«
Da Glenda sich wieder besser fühlte, getraute sie sich eine Frage. »Zu welchen Engeln sollte ich gehören?«
»Wieso? Weißt du nicht Bescheid?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Die Mann-Frau verengte die Augen. »Die Engel sind um uns. Aber sie sind nicht mehr die, die sie mal waren. Man hat sie geholt. Man hat sie gebissen. Man hat ihnen das Engelsblut ausgesaugt, und deshalb haben sie sich so verändert. Sie sind zu einer Mischung aus Vampir und Engel gemacht worden. Und genau das kann ich nicht zulassen.«
Glenda wusste zwar nicht, wie die Gestalt hieß, die mit ihr sprach, aber sie dachte an John Sinclair und an seinen letzten großen Fall. Da war es um drei Engel gegangen, denen die Flucht gelungen war. Verfolgt worden waren sie von den Saugern, den schrecklichsten Vampirbestien auf einem unteren Niveau, aber diese Engel hatten anders ausgesehen, das wusste Glenda aus Johns Beschreibungen.
Doch ihr fiel etwas anderes ein. Sie hatte gesehen, wie die Haut abgekratzt worden war. Und der Schädel hatte eine große Ähnlichkeit mit dem aufgewiesen, der dann zerschmettert worden war.
Hier fügten sich plötzlich kleine Steine zu einem Mosaik zusammen.
Waren diese Geschöpfe in den Nischen etwa Engel gewesen, die sich jetzt veränderten und zu diesen ungewöhnlichen Vampiren wurden?
Genau das drang immer stärker in Glendas Kopf hinein, und sie merkte, wie ihr kalt und heiß zugleich wurde. Aber sie erlebte auch eine gewisse Hoffnung.
Da sie nicht zu den veränderten Engeln gehörte, gab es auch keinen Grund, sie zu
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