1269 - Julie
mich, sondern reagierte völlig befremdlich. Sie stand auf und beeilte sich, zu ihrem kleinen Schreibtisch zu kommen.
Ich hielt sie nicht auf, weil ich sehen wollte, was sie dort tat. Grundlos hatte sie das Bett nicht verlassen. Sie nahm auf dem kleinen Stuhl Platz und zog eine Schublade an der rechten Seite auf. Einige Stifte holte sie hervor. Während ich telefoniert hatte, war das Zimmer aufgeräumt worden, deshalb lagen auch keine mehr am Boden.
Papier lag auf dem Schreibtisch. Als ich aufstand, sah ich, dass es ein Malblock war.
Julie kümmerte sich nur um ihre Arbeit. So merkte sie auch nicht, dass ich langsam näher trat und hinter ihr stehen blieb, damit ich einen Blick über ihre Schulter werfen konnte. Ich wollte sehen, was sie malte, und konnte es mir auch denken.
Schon nach den ersten Strichen, die sie mit einem dunklen Stift zeichnete, war mir klar, dass sie einen Körper malte. Einen menschlichen, aber es war kein Körper, der zu einem Menschen passte, denn diese Umrisse kamen mir bekannt vor.
Sie malte Belial!
Und zwar so, wie sie ihn schon einmal mit dem letzten Bild gezeichnet hatte.
Ich erlebte, wie schnell sie arbeiten konnte. Als wäre jemand aus dem Unsichtbaren da, der ihr die Hand führte. Die Spitze glitt über das Papier hinweg. Sie malte die Flügel mit ihren Zacken, und sie malte auch das Gesicht, das sie mit Augen, einem Mund und einer Nase füllte. Das Gesicht war nicht normal, es war eine widerliche Fratze, und so kannte ich Belial.
Der Eifer hatte Julies Gesicht gerötet. Sie stand unter einem wahren Druck, und sie ließ sich auch durch nichts stören. Den Kopf hatte sie tief nach vorn gebeugt. Sie starrte das Papier an und war mit ihrer geleisteten Arbeit noch nicht zufrieden, denn nun begann sie, das Innere der Gestalt zu schraffieren.
Sie wollte den Lügenengel so düster wie möglich machen. Unter dem Stuhl bewegte sie die Beine hin und her, bis sie schließlich den Stift einfach wegwarf.
Die Zeichnung hatte etwas zu bedeuten. Auch dass Julie sie gerade in diesem Augenblick gemalt hatte. Bestimmt war der Zeitpunkt nicht zufällig erfolgt.
Ich sprach sie wieder an. »Du kannst wirklich toll malen, Julie. Jetzt sag mir noch…«
Ihr Kopf ruckte so hart zur Seite, dass ich verstummte. Ich hatte mich sogar erschreckt.
»Er ist da!«
»Wo?«
Sie lachte plötzlich schrill und auch kichernd auf. »Er ist hier. Ja, er ist hier!«
Plötzlich durchfuhr mich ein Adrenalinstoß. Ich wusste, dass Julie nicht gelogen hatte, und dann fiel mir ein, dass Sina Franklin eigentlich längst hätte wieder zurück sein müssen.
»O Gott!«, keuchte ich und rannte auf die Tür zu…
***
Die Heimleiterin war froh darüber, das Zimmer verlassen zu können, denn sie wollte für sich sein, um in Ruhe nachdenken zu können. Es war zu viel passiert, das nicht in ihr Weltbild hineinpasste. Zu einem Ergebnis war sie nicht gekommen, doch ein Gefühl hatte sich bei ihr festgesetzt und würde auch so leicht nicht verschwinden. Es war die Angst!
Nie in ihrem Leben zuvor hatte sie eine derartige Angst verspürt. John Sinclair gegenüber hatte sie sich zusammengerissen, doch jetzt zitterten ihr die Knie, als sie auf einen der Vorratsräume zuging, die es im Heim gab.
Der in der unteren Etage enthielt eine kleine Küche. Die Getränke standen im Kühlschrank, und die Tür zur Küche selbst war verschlossen.
Wäre es anders gewesen, hätten die Kinder den Kühlschrank innerhalb eines Tages geplündert.
Als Heimleiterin besaß sie auch die Schlüsselgewalt. Sie trug mehrere Schlüssel an einem Ring bei sich. Bevor sie das Schloss öffnete, drehte sie sich um, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein.
Ihr Blick glitt durch den Flur, doch es war niemand zu sehen. Trotzdem atmete sie nicht auf, weil eben das verdammte Gefühl, nicht mehr allein zu sein, bestehen blieb.
Noch ließ sie die Tür geschlossen. Sie blieb auf der Stelle stehen und lauschte. Etwas rann eisig und kribbelnd über ihren Rücken hinweg, und sie zog die Schultern in die Höhe.
So sehr sie den Kopf auch drehte, es gab nichts zu sehen. Sie war und blieb allein.
Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Es ist verrückt«, flüsterte sie, »es ist wirklich verrückt, und ich bin diejenige, die sich selbst verrückt macht. Da ist nichts, und da kommt auch nichts, verdammt!«
Sie drückte die Tür auf. Zuerst schnell, dann langsamer, weil wieder das ungute Gefühl in ihr hoch stieg. Sie warf einen Blick in die
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