1269 - Julie
kleine Küche hinein, die mehr lang als breit war und noch ein kleines Lager enthielt.
Darum kümmerte sie sich nicht. Andere Dinge waren wichtiger. Zuerst schaute sie durch das Fenster nach draußen. Da war es nur dunkel, wie es sich eben gehörte. Komischerweise beruhigte sie das gar nicht, und auch die Stille in der Küche gefiel ihr nicht.
Die Tür hatte sie offen gelassen. Sie wollte sich den schnellen Weg nach draußen nicht verbauen.
Ein Gönner hatte dem Heim vor gut zwei Jahren einen Kühlschrank geschenkt.
Er war zwar gebraucht, aber noch voll funktionsfähig, und er gehörte zu diesen hohen Schränken, die jetzt in einem Nostalgie-Trend wieder produziert wurden. Wichtig war, dass viel hineinpasste.
Sie zog die Tür auf. Wasser, Säfte, kein Bier oder Sekt. Wenn Kinder sich heimlich doch etwas nahmen, dann gab es für sie zumindest keinen Alkohol, denn das war wichtig.
Als Gläser dienten durchsichtige Becher aus Kunststoff. Sie waren ineinander gestellt und hatten auf einem Holzregal ihren Platz gefunden.
Sina Franklin entschied sich für Saft und Wasser. Jeweils zwei Flaschen wollte sie mitnehmen. Sie schloss die Kühlschranktür und stellte die Flaschen zusammen mit den Bechern in einen braunen Weidekorb. Es war alles bisher völlig normal gelaufen, und trotzdem traute sie dem Frieden nicht. Etwas störte sie!
Sina hielt den Griff des Korbs bereits mit einer Hand umklammert, als es ihr auffiel.
Da war kein Fremder in der Nähe. Was sie hier störte, war einzig und allein die Luft, denn sie hatte sich verändert. In der Küche war es warm gewesen, denn die Wärme des Tages hatte sich noch nicht verziehen können.
Es war noch immer warm, und doch zeigte die Luft eine Veränderung.
Sie war irgendwie schärfer geworden, als hielte sich dort ein bestimmter Geruch.
Sina zog die Nase hoch. Konnte man Elektrizität riechen? Sie wusste es nicht, aber es war möglich. Dieser scharfe Geruch, der war für sie nicht normal. Er wurde mitgebracht, denn hier im Haus hatte sie ihn noch nie erlebt.
Das Kribbeln auf ihrem Körper verstärkte sich. Noch ließ sie den Korb stehen und wandte sich der Tür zu. Sie war nicht ins Schloss gefallen, stand allerdings auch nicht zu weit offen. Der Überblick in den Flur blieb ihr verwehrt.
Sie zog die Tür auf.
Vorsichtig, langsam, nur nicht zu schnell, denn sie traute dem Frieden nicht.
Und sie hatte Recht!
Im Flur und wirklich nicht weit von der Küche entfernt, stand im schwachen Licht genau die Person, die Julie Wilson gemalt hatte. Und zwar in ihrer schrecklichsten Version…
***
Der Anblick war ein Schock und ließ die Heimleiterin erstarren. Sie kam überhaupt nicht dazu, einen klaren Gedanken zu fassen und stierte nur nach vorn.
Er stand auf dem grauen Steinboden wie vom Himmel gefallen. Aber einer Wie er wurde höchstens aus der Hölle gestoßen, denn sein Aussehen war einfach schrecklich.
Julie Wilson hatte schon den richtigen Farbton getroffen, denn die Farbe stimmte mit der auf der Zeichnung überein. Sina wunderte sich nur über die Größe der Gestalt, deren Kopf beinahe die Decke berührte. Sie war nackt. An dem grauen Schattenkörper hing kein Fetzen Kleidung. Die graue Haut wirkte auf Sina wie Fell. Und grau war auch das lange, struppige Haar, das ein Gesicht mit bösen Augen umgab. Sie konnte den Ausdruck in den pupillenlosen Augen nicht deuten.
Sie waren kalt und gefühllos. Bei diesem leeren Blick erschauerte sie.
Hinter den eckigen Schultern wuchsen die Spitzen der Flügel in die Höhe, und auch sie hatte das Kind so überdeutlich gezeichnet. Sie musste diese Gestalt schon vorher gesehen haben.
Beide schauten sich an.
Belial tat nichts, und so versuchte Sina, ihre Gedanken zu ordnen.
Bisher hatte sie nie so recht an Engel geglaubt, auch wenn sie den Kindern öfter etwas über sie erzählt hatte. Aber das waren mehr Geschichten gewesen, die sie vorgelesen hatte. Auch jetzt gelang es ihr nur schwer, sich vorzustellen, hier einen Engel vor sich zu haben und keinen verkleideten Menschen.
Und wenn sie mit den Kindern über die Himmelsboten gesprochen hatte, dann hatten sie nicht so schrecklich ausgesehen wie die nackte Gestalt vor ihr. Dann waren die Engel schöne Wesen gewesen, hell und licht. Mit Flügeln wie Wolken und pausbäckigen Gesichtern.
Aber hier erlebte sie das Grauen. So echt hätte sie ihren Kindern keinen Engel beschreiben können. Die Kleinen hätten Schaden an ihren Seelen genommen.
Er sagte nichts. Er tat nichts. Er
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