127 - Rosemaries Alpträume
Psychologe drückte die Kippe im Aschenbecher aus, genehmigte sich einen Schluck Barack aus der Flasche und kehrte ins Kinderzimmer zurück.
Rose sprach wieder im Schlaf, aber mit so leiser Stimme, daß er sie nicht hören konnte. Er steuerte das Mikrofon des Tonbandgeräts aus und setzte sich wieder neben sie.
Die Szene hatte inzwischen wieder gewechselt. Rose war in ein Tal gekommen, in dessen Mitte ein Hügel mit einer Art Burg stand. Sie schilderte das Bauwerk zumindest als Burg mit lauter „Fernsehantennen und Blitzableitern" darauf. Zu dieser Burg führte nur ein einziger Weg - und zwar durch ein gläsernes Labyrinth. In manchen Glaswänden sah sich Rose wie in einem Spiegel, andere wieder reflektierten fremdartige Geschöpfe. Rose wurde an eine Fahrt in der Geisterbahn erinnert, die sie an ihrem achten Geburtstag im Prater unternommen hatte. War der Schock damals so stark gewesen, daß er ihr noch heute diese Alpträume verursachte? Aber nein. Hinter diesen so intensiv empfundenen Traumerlebnissen mußte mehr stecken.
„Ein Lachkabinett, das nicht zum Lachen ist. Aber endlich bin ich draußen. Au! Ich bin gegen eine Glaswand gerannt. Dahinter ist ein uralter Mann aufgetaucht, der mich beobachtet. Er hat ein gemeines Gesicht. Seine Augen sehen mich an, als wollte er mich damit verschlingen.
,Bitte, lassen Sie mich raus!'
,Nur weiter so, kleiner Psycho!' Ich studiere dein Verhalten!"
Psycho!
Bei diesem Wort horchte Heino Spazzek auf. Wieso bezeichnete sich Rose selbst so? Oder - besser gesagt - warum ließ sie sich von einer ihrer Traumfiguren so nennen?
„Der alte Mann läßt mich nicht aus den Augen. Jetzt dreht er seinen Kopf herum. Er hat auf der Rückseite noch ein Gesicht! Ein Totenschädel starrt mich an. Aber sofort wieder zeigt er mir das erste Gesicht, das runzelige Gesicht. Er rollt mit den Augen. Hoch oben zucken Blitze, sie schlagen in die Fernsehantennen der Burg ein. Es müssen wohl doch Blitzableiter sein. Es kommt Besuch!
Ich werde dich in meine Festung bringen, kleiner Psycho. Aber versuche nicht, mich zu überlisten! Ich war schon auf Malkuth, bevor ihr Psychos zu einer Plage geworden seid."
Malkuth!
Da war schon wieder so ein Begriff, der nicht zu Roses Wortschatz gehören konnte. Oder hatte das Wort keinerlei Bedeutung? Hatte Roses Unterbewußtsein es nur erfunden?
Heino Spazzek schüttelte den Kopf. Er hatte dieses Wort schon einmal gehört; und irgendwie brachte er es mit der Kabbala in Verbindung. Er würde sich später darum kümmern; im Augenblick fesselte ihn Roses Bericht zu sehr.
„Der alte Mann hat mich in die Burg geführt. Ich habe Angst vor ihm. Er muß ein Zauberer sein, obwohl er nicht so gekleidet ist. Aber er hat so seltsame Dinge in seiner Burg und macht immer wieder Zeichen in die Luft, woraufhin irgendwas passiert. So haben zum Beispiel die Türen keine Klinken. Er braucht nur mit dem Finger zu schnippen, was sehr kompliziert aussieht, ihm aber keine Schwierigkeiten macht, und schon geht eine Tür auf. In manchen Räumen stehen Käfige mit Tieren darin, wie ich sie noch in keinem Zoo gesehen habe. Manche erinnern mich zwar an die Affen oder Giraffen oder Schlangen in Schönbrunn, aber es besteht nur eine geringe Ähnlichkeit. Und der alte Mann redet dauernd auf mich ein. Er hat auch einen Namen: Gezo. So möchte ich nicht heißen. Er sagt, daß ich ein seltsamer Psycho sei; vielleicht aber gerade deswegen besonders bösartig und gefährlich bin, weil ich das verbergen kann. Kinder der Erde, sagt er, hätten besonders grausame Psychos - wenn sie überhaupt welche hatten. ,Selten genug, daß mir ein Kinder-Psycho über den Weg läuft', sagt er. ,Ich weiß auch, warum es so wenige gibt. Kinder sind in ihrer Unschuld grausam, aber nicht im eigentlichen Sinne böse. Erst wenn sie älter werden, passen sie sich den gesellschaftlichen Normen an, werden so heuchlerisch und verschlagen wie ihre Vorbilder - ihre Eltern und Lehrer und andere Idole. Dann erst verlieren sie ihre Unschuld und können Psychos produzieren.' Das alles und mehr noch sagt der alte Mann, und ich kann es nicht verstehen."
Heino Spazzek dagegen verstand sehr wohl. Unvermittelt wurde der Psychologe an Freuds psychoanalytische Thesen von der dreigeteilten Persönlichkeit des Menschen erinnert. Das Ich bildet dabei die mittlere Schicht und wird vom Es zum Bösen und vom
Überich
zum Guten beeinflußt. Bei einem Kind ist das Ich noch dominant.
Es
und
Überich
werden erst durch Erziehung und
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