1270 - Belials Liebling
und der Fahrer kannten sich lange genug, da konnte man sich gegenseitig vertrauen.
»Danke, Mrs. Franklin. Ich bin dann Anfang der nächsten Woche wieder hier.«
»Ist schon gut.«
In Gedanken versunken schaute Sina dem Mann nach, ohne ihn richtig wahrzunehmen. Ihre Gedanken drehten sich um etwas ganz anderes. Sie dachte an ihre Vertreterin und wunderte sich darüber, dass Vivian nicht anwesend gewesen war. Auch sie wusste immer Bescheid, wann die Lieferung erfolgte. Dass sie den Fahrer nicht abgefangen hatte, empfand die Heimleiterin schon als ungewöhnlich.
Was tun?
Es war klar. Ins Haus gehen, nach ihr rufen oder suchen. Sie konnte auf der Toilette gewesen sein.
Oder sie hatte sich um eines der zahlreichen Kinder kümmern müssen. Da gab es genügend Gründe, aber sie reichten ihr alle nicht.
Das schlechte Gefühl war stärker…
Im Haus selbst empfand sie die Kühle als angenehm. Ihr Körper war verschwitzt, der Atem hatte sich noch immer nicht beruhigt, ebenso wie der Herzschlag.
Zuerst wollte sie ins Büro gehen. Dann fiel ihr ein, dass es ihr primär gar nicht um Vivian Donnegan ging, sondern um die beiden Mädchen. Sie ging davon aus, dass sie sich noch immer hier im Haus aufhielten. Wenn das zutraf, mussten sie in Julies Zimmer sein.
Wieder schlich sich die Frau wie ein Dieb in die Nähe der Tür und lauschte zunächst.
Diesmal hörte sie nichts, und sie empfand die Stille als recht beklemmend. Abermals wartete sie einige Sekunden, bevor sie die Tür aufzog.
Das Zimmer war - nein, es war nicht leer.
Auf dem Bett lag jemand.
Das dunkle Haar passte zu keinem der Mädchen. Es fiel auf dem hellen Bettbezug besonders auf.
Ebenfalls wie die dunkelroten Blumenblätter, die sich um den Hals der Frau verteilt hatten.
Sina Franklin ging geduckt näher an das Bett heran. In ihr schrieen unzählige Stimmen, doch keine drang nach draußen. Das Entsetzen hatte die Kehle zugepresst.
Es waren keine Blumenblätter, die sich um die Kehle verteilten. Es war Blut, das aus der schrecklichen Halswunde der Frau geflossen war…
***
Tot! Vivian lebte nicht mehr. Sie war auf grausame Art und Weise umgebracht worden, hier im Heim, hier im Zimmer, in dem normalerweise ein achtjähriges Mädchen lebte.
Und jetzt war es zu einer Mörderin geworden!
Sie konnte nicht anders darüber denken, auch wenn es ihr nicht in den Kopf wollte und sie sich dagegen stemmte. Aber die Tatsachen sprachen für sich. Jemand hatte die Frau getötet und sie auf dem Bett einfach liegen gelassen.
Sina Franklin wandte sich ab. Ihre Bewegungen waren ruckartig.
Dass sie ging, merkte sie kaum. Immer wenn sie einen Fuß aufsetzte, hatte sie das Gefühl, in einen weichen Schwamm zu treten. Vor ihren Augen kreiste etwas, doch sie wusste nicht, was es war. Es konnten Bilder sein oder irgendwelche schattigen Gestalten, die aus fernen Reichen zu ihr gekommen waren.
Irgendwann stieß sie gegen die Wand, weil sie die Tür verfehlt hatte. Mit der Schulter berührte sie ein Bild, das durch den Druck ins Schwanken geriet. Die schöne Landschaft, in der sich zahlreiche Märchenfiguren aufhielten, pendelte von einer Seite zur anderen, und das Bild schabte dabei mit der Rückseite immer wieder über die Tapete.
Sina Franklin hörte das Geräusch, als sie in die Knie sackte. Nichts war mehr da, das ihr Halt gab.
Sie berührte schließlich den Boden und blieb so steif sitzen, als wäre sie ebenso tot wie ihre Stellvertreterin auf dem Bett.
Sie wollte nichts mehr, gar nichts. Nur noch weit, sehr weit weg, wo es weder Sorgen noch Probleme gab.
Das allerdings blieb ein Wunschtraum…
***
Ich hatte Suko das Steuer überlassen, denn das war besser für mich. Zu sehr war ich in meinen eigenen Gedanken gefangen, denn mir wollte das Bild des Belial nicht aus dem Kopf.
Ich sah nicht nur ihn. Ich sah auch das blonde Mädchen, das er entführt hatte, ohne dass ich es hatte verhindern können. So hatte ich meine Niederlage hinnehmen müssen, aber es gab eine kleine Hoffnung. Es hatte keine Toten gegeben, und nur das zählte. Und ich wollte dafür sorgen, dass es auch so blieb.
Suko hatte von mir die Wegbeschreibung erhalten und brauchte auch nicht mehr nachzufragen. Wir ließen die Stadt hinter uns, der Weg wurde freier, die grüne Natur nahm uns auf.
Sonnenlicht sprenkelte die Straße. Löwenzahn blühte in seinem kräftigen Gelb am Wegrand und stand in einem satten Kontrast zum Grün der Wiesen und zu der noch dunkleren Farbe der kleinen Waldstücke.
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