1272 - Der Geist des Zauberers
die ich schaute, sondern nur ein Becken, das mit Themsewasser gefüllt war.
Ein darüber hinweggleitendes Boot sah ich nicht. Nur der Wind zauberte einige Wellenmuster auf die Oberfläche, das war alles. Der Himmel hatte etwas von seiner dichten Wolkendecke verloren, und die helleren Lücken fanden sich auf dem Wasser wieder wie in einem gewaltigen Spiegel.
»He, John…«
Bills Ruf ließ mich herumfahren. Ich sah ihn an der Böschung stehen. Er hatte sich im Profil zu mir aufgebaut und winkte dabei mit der Hand.
»Was ist denn?«
»Hier sind wir richtig!«
Wenn Bill das sagte, musste es auch stimmen. Ich brauchte wenige Schritte um bei ihm zu sein und folgte mit meinem Blick seiner nach unten weisenden Hand.
Ich hatte es noch nicht genau erkannt und war wahrscheinlich auch zu weit entfernt.
»Was ist das?«
»Eine Tür!«
In einer solchen Situation machte man keine Scherze. Auch jemand wie Bill nicht.
Er hatte Recht. Es war eine Tür, und man hatte sie schräg in die Böschung hineingebaut. Sie fiel auch nicht so leicht auf, weil das Metall genauso dunkelgrau war wie das Gestein.
»Das ist der Weg zum Ziel«, flüsterte Bill. »Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass die Tür offen ist. Der Griff ist jedenfalls vorhanden.«
Das stimmte. Es gab einen Türgriff, aber ich sah kein Schloss, und das ließ mich hoffen.
Ich zog meine Waffe, da Bill bereits den Griff umfasst hielt. Er sollte die Tür öffnen.
»Okay, dann los!«, flüsterte er und wunderte sich einen Moment später, wie leicht es war, die Tür aufzuziehen.
Wir schauten in einen Stollen. Wir sahen das Feuer, und wir sahen die Gestalten…
***
Hätte man Naomi gefragt, wie so etwas möglich war, sie hätte keine Antwort geben können. Es war eben diese unerklärliche Kraft und geheimnisvolle Macht, die sich in den Ritualen des Voodoo vereinte. Aber sie wusste immerhin so viel, dass das große Beschwörungsritual bereits gelaufen war, denn hier wurde kein Zauberer herbeigeholt und auch kein Zombie, sondern eine Gestalt, die nur mehr als rächender Geist existierte und ihren Weg aus dem Jenseits oder der Voodoo-Hölle zurück in die Welt gefunden hatte.
Orrus Geist!
Die bemalten Gestalten um sie herum waren ruhig, und so hatte sich eine Totenstille innerhalb der Höhle ausbreiten können, die auch so gut wie nicht durch Atemgeräusche unterbrochen wurde. Die Spannung war fast zum Greifen nah, und der Geist des Zauberers brachte aus der anderen Welt diese Kälte mit, durch die der Tod immer so gut beschrieben wurde.
Das Gesicht schwebte im Feuer. Es war nur einmal zu sehen, und Naomi konzentrierte sich auf die Züge, die keinem Menschen gehörten und trotzdem ein menschliches Aussehen besaßen, denn es waren Augen, eine Nase und ein Maul vorhanden. Ja, ein Maul und kein Mund.
Das Gesicht war nicht starr. Es blieb auch nicht bei seinem ersten Aussehen, sondern war vom Kinn her in die Länge gezogen, und das wirkte sich auch auf die Nase aus, die weit nach unten gezerrt worden war und mit der Spitze über das breite Maul hinwegragte. Die Fratze blieb im Feuer, das seine Flammen in sie hineinschickte, ohne sie allerdings zu verbrennen.
Allein das war ein Phänomen, über das Naomi nicht nachdachte, weil sie einfach keine Lösung sah und alles so nehmen musste wie es sich ihr präsentierte.
Innerlich hatte sie sich verkrampft. Das Blut rann schneller durch ihre Adern, und bei dem Gedanken an Blut musste sie wieder an ihren Vater denken und bekam weiche Knie.
Man hatte Orru einen Platz gebaut, an dem er sich wohl fühlen konnte. Hier auf dem kulissenhaften Friedhof in der Höhle machte ihm eine Rückkehr Spaß. Hier konnte er über die von den blassen Flammen angemalten Grabsteine hinwegstreichen und die böse Botschaft aus dem Reich der Toten in die Welt bringen.
Naomi war nicht allein gekommen. Adam hatte sie gerettet. Aber er hatte bestimmt nicht an diesen Ort kommen wollen, der durch Orrus Macht verseucht war.
Sein Geist beherrschte die Umgebung, und er sorgte bei dem Hünen für eine irre Angst.
Adam war der Einzige, der einen Laut von sich gab. Er stand zitternd auf der Stelle, glotzte Orru an und tief in seiner Kehle löste sich ein schauriges und angstvolles Stöhnen.
Adam sah keine Chance mehr. Naomi konnte sich nicht auf ihn verlassen, und genau das stimmte sie so verdammt traurig. Es würde auch nichts bringen, wenn sie ihn ansprach, er war von der Rückkehr des Orrus voll und ganz gefangen.
Die Voodoo-Diener rahmten sie ein.
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