1274 - Der Wolf und das Mädchen
wenig Licht. Dazu eine schlechte Luft.
Die Lampe glühte wie ein gelbliches Auge über der Tür und machte Caroline trotz des Scheins Angst, denn sie fühlte sich beobachtet. Es war nur eine einfache Lampe, aber kreisrund, und sie stellte sich in der unmittelbaren Umgebung den mächtigen Körper eines Zyklopen vor, der allerdings von der Dunkelheit verschluckt worden war. Nur das Auge schien, und das ließ die junge Gefangene auf keinen Fall aus der Kontrolle.
Caroline hockte auf zwei Matratzen, die übereinander gelegt worden waren. An den schwachen Ausläufern des Lichts erkannte sie zusätzlich noch einen kleinen wackligen Kunststofftisch und einen Stuhl aus dem gleichen Material. Ein Waschbecken gab es ebenfalls in diesem Raum. Es musste uralt sein, denn es bestand aus angerostetem Metall. Überall in den Ecken hatten Spinnen ihre Netze gezogen. Heimtückische Fallen für andere Insekten.
Caro kam sich ebenfalls wie eine Fliege vor, die in das Netz der Spinne hineingeflogen war. Es war etwas mit ihr geschehen. Ihr Leben hatte einen radikalen Bruch erhalten, aber wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich nur an die Hälfte dessen erinnern.
Sie war mit dem Wolf gegangen. Einfach so, als wäre es das Normalste von der Welt. Das Tier mit dem weißen Fell hatte ihr nichts getan. Es war immer an ihrer Seite geblieben.
Die Dunkelheit war der große Schutz gewesen. Gemeinsam waren sie bis zum Waldrand gegangen, denn dort parkte der Van, in den sie dann eingestiegen waren.
Caro erinnerte sich noch genau daran, wie sie die Tür hatte öffnen müssen. Dann war plötzlich ein maskierter Clown aufgetaucht, ein Mann mit blutenden Augen, der sie gepackt und ihr etwas gegen den Mund gedrückt hatte. Zugleich war ihr die Nase zugehalten worden, sie hatte atmen müssen und aus der weichen Masse vor ihren Lippen war etwas in ihren Mund eingedrungen, das bei ihr für eine Ohnmacht oder Bewusstlosigkeit gesorgt hatte. Sie erinnerte sich noch daran, dass ihr die Knie weich geworden waren, dann war Schluss gewesen.
Erwacht war sie hier in diesem Raum. In einem Keller, nicht in einem alten Verlies, wie sie es aus ihren Geschichten her kannte, denn sie las gern Märchen und Gruselgeschichten. Da waren die Gefangenen oft in diese finsteren Verstecke eingesperrt worden. Dort hatte man sie sogar verhungern und verdursten lassen.
Das war hier nicht der Fall gewesen.
Neben der Matratze standen zwei Wasserflaschen, von denen die eine schon leer getrunken war.
Man hatte ihr auch etwas zu essen hingestellt. Auf einem Teller hatten mit Schokolade überzogene Kekse gelegen, die ihren Hunger zunächst mal gestillt hatten. So schlecht wie den Leuten in den Geschichten ging es ihr nicht. Trotzdem wollte sie raus. Sie fror, obwohl ihr eine Jacke und auch Turnschuhe gebracht worden waren, die sogar passten.
Das hatte der Mann mit der bösen Maske getan. Er war hier für sie verantwortlich.
Es war ein Keller, kein Verlies. Und er sah aus wie viele Kellerräume, dachte zumindest Caro. Sie hatte diesen Raum zuvor noch nie gesehen. Dennoch war er ihrem Gefühl nach nicht so unbekannt, wie sie es eigentlich gedacht hätte. Da gab es etwas, das sie kannte, an das sie sich allerdings nicht so richtig erinnern konnte. Sie merkte es beim Einatmen, sie spürte es auf ihrer Haut. Es war der Geruch, den sie schon mal erlebt hatte.
Nicht in Woodstone, sondern woanders…
Hin und wieder, wenn es still war und auch irgendwelche undefinierbaren Außengeräusche verstummt waren, hörte sie den Klang einer Glocke. Sie schlug in einem bestimmten Ton, und Caroline kannte diesen Klang von zahlreichen Uhren her.
Es war der ferne Glockenschlag von Big Ben!
Diese Kirche stand in London. Das wusste sie auch mit ihren elf Jahren. Also hatte man sie nach London verschleppt, und in dieser Stadt lebte ihre Mutter.
Und sie erinnerte sich an noch etwas. Es war das Schlimmste überhaupt gewesen. Auch wenn sie jetzt darüber nachdachte, wusste sie nicht hundertprozentig, ob sie es sich nur eingebildet hatte oder diese fürchterlichen Laute echt gewesen waren.
Ein schlimmes Schreien, ein Heulen, ein Jammern und Stöhnen. Große Qualen, an die sie nicht mehr denken wollte, die aber immer wieder in ihrer Erinnerung hoch stiegen. Sie glaubte auch nicht, dass die Laute von einem Tier abgegeben worden waren. Oder vielleicht doch? Obwohl sich das Schreien menschlich angehört hatte.
Sie wollte darüber nicht nachdenken. Und Caro wusste auch nicht, wie viel Zeit sie
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