128 - Der Schläfer
Grimes?«
»Gerade ihn. Dieser Mensch hat kein Innenleben mehr. Er ist derart in den Krankheitsbildern der anderen Community-Mitglieder aufgegangen, dass er sich selbst als Person aufgegeben hat. Ich denke, dass er keine Chance hätte, an die Oberfläche zurückzukehren. Er würde dort sterben.«
Rulfan senkte den Kopf, dachte kurz nach. Das, was Eve sagte, war möglicherweise richtig. Doch es tat weh. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte er: »Und was ist mit dir? Was ist deine Macke?«
»Das, mein Lieber, geht dich nichts an.« Sie drehte sich um und ging davon.
***
Rulfan warf angewidert und gleichzeitig müde den Stapel Fotos und Datenträger vor sich auf den Tisch. Nichts: Kein Hinweis auf Verhaltensauffälligkeiten bei den Leuten der Inneren Sicherheit.
Der kleine Trupp umfasste gerade mal sechs Männer und zwei Frauen. Sie waren alle bereits jenseits der achtzig.
Handverlesene Günstlinge von Sir Bryant, der sich vor mehr als zwanzig Jahren deren Loyalität mit ein paar billigen Privilegien erkauft hatte.
Doch nach dem, was er in Erfahrung gebracht hatte, kam keiner von ihnen für das Eindringen ins »Nest« und in die Zentral-Helix in Frage. Entweder waren sie zu alt oder zu dumm – oder beides.
Rulfan hatte heute nur einen kurzen Blick auf die Zentral-Helix werfen können. Der lächerlich kleine Raum, in dem das zentrale Rechengehirn der Community Salisbury untergebracht war, besaß einige Abschirmungen, die nur mit profundem Wissen um die Bioinformatik und einigem Geschick umgangen werden konnten.
Und beides besaßen die Leute von der Inneren Sicherheit nun mal nicht in ausreichendem Maße.
Die Zentral-Helix war eine der Mythen dieser Zeit. Ein nicht einmal zwei Deziliter fassender Flüssigkeitscontainer, gefüllt mit Ursuppe aus künstlich generierter Erbsubstanz, diente sowohl als »Hardware« wie auch als Energieträger.
Weit mehr als sechs Billiarden Rechenschritte konnten mit diesem Wunderding pro Sekunde vollzogen werden, wenn es darauf ankam, auch mehr als zehntausend Endgeräte simultan mit Daten beliefert werden.
Doch es gab heutzutage bei weitem keine zehntausend Menschen, die die Anwendung dieser Technik nachvollziehen konnten.
Es klingt so simpel, dachte Rulfan. Zwei Moleküle werden miteinander verbunden. Das informationssuchende Molekül und das Software-Molekül. Ein DNS-spaltendes Enzym löst die Information von der »Software« und übergibt sie dem informationssuchenden Molekül. Gleichzeitig werden zwei Bindungen der DNS-Doppelhelix-Struktur durch das Enzym gelöst; es entsteht Wärme. Genügend Wärme und damit Energie, um die Rechenprozesse am Laufen zu halten. Es ist somit keine äußere Energiequelle erforderlich.
Er gähnte ausgiebig und streckte sich. Bei Wudan, was war er müde! Als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan…
Noch einmal schweiften seine Gedanken zu seiner Aufgabe zurück. Auch wenn er heute noch keinen Schritt weitergekommen war, was den Eindringling betraf, so konnte er zumindest die Leute von der Inneren Sicherheit aus dem Kreis der Verdächtigen ausklammern. Es waren Russ Saint Neven, Maeve McLaird, Sarah Kucholsky, Grimes und Kylie Buchanan, auf die er sich konzentrieren musste.
So – und nun genug damit! Er musste schlafen…
***
Gu’hal’oori warf sich erneut auf Rulfan und vereinigte sich in der grob nachgebildeten Gestalt der weiblichen Primärrassenvertreterin Aruula mit ihm. Sie imitierte Stöhnen und Ächzen, warf sich gelenkig hin und her, probierte aus, wie sie die Leidenschaft des Mannes noch weiter steigern konnte.
Männliche Primärrassenvertreter waren weitaus leichter zu stimulieren als weibliche. Dies war eine der Erkenntnisse, die sie aus Marienthal mitgebracht hatte.
Während sie die Stöße Rulfans stoisch hinnahm, legte sie ihre Hände an seine Schläfen. Ein sanftes Streicheln, ein wenig mehr Druck – und seine Gedanken lagen offen vor ihr.
Da war Verwirrung, da war Chaos. Zerrissene, zerstreute Gefühlscluster wirbelten umher, spritzten kaskadenförmig in alle Dimensionen.
»Ja!«, schrie er, und das mentale Feuerwerk in Rulfans Bewusstsein erreichte seinen Höhepunkt.
Dies war genau der richtige Augenblick für den Angriff.
Gu’hal’oori stieß in seinen Geist hinein, verdrängte jeglichen vernünftigen Gedanken. Binnen weniger Augenblicke hatte sie die kümmerlichen Reste seines Verstandes in ihrer Gewalt.
»Ich will, dass du Wulf morgen mit hinein nimmst in das Nest«, flüsterte sie.
»Das…
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