1285 - Der Vampirhasser
können. Aber die Zeiten waren lange vorbei, und sie trauerte ihnen noch immer nach.
Ihr Morgenmantel bestand aus einem weißen feinen Stoff. Er reichte ihr bis zu den Knöcheln. Wenn sie ging, bauschte sich der Stoff auf wie ein Gewand.
Die beiden Falten an den Mundwinkeln gefielen ihr nicht. Die auf der Stirn ebenfalls nicht, und auch um die Augenwinkel herum sah sie die dünnen Striche in der Haut, die aussahen, als wären sie mit einer Rasierklinge nachgezogen worden.
Marlene überlegte, ob sie in der Nacht eine Maske auflegen sollte. Sie entschied sich dagegen und wollte erst mal abwarten, ob sie in den nächsten Tagen einen Termin bekam. Dann konnte man immer noch etwas dagegen tun.
60 Jahre!
Nicht, dass sie ihr Alter hasste. Aber sie wäre gern jünger gewesen, um so richtig am prallen Leben teilzunehmen. Das konnte sie sich jetzt zwar auch leisten, leider nicht mit der Energie der Jugend, und das war schade.
An eine erneute Heirat hatte Marlene nie gedacht. Das wäre ja verrückt gewesen. Hin und wieder ein kleines Abenteuer - okay, mehr bitte nicht. Außerdem fühlte sie sich ein wenig wie die lustige Witwe, die Typen waren meist nur hinter ihrem Vermögen her. Und wenn sie mal einen jungen Körper in den Armen halten wollte, kaufte sie sich einen Callboy. Das war heutzutage kein Problem.
Das Weinglas hatte sie am Rand des Waschbeckens abgestellt. Sie nahm es hoch, trank es fast leer und wollte sich umdrehen, um zur Tür zu gehen, als sie noch einen letzten und mehr zufälligen Blick in den Spiegel warf.
Dort sah sie die Tür.
Nichts Besonderes, den Anblick kannte sie. Trotzdem klopfte ihr Herz schneller, denn sie sah, dass jemand die Tür nach innen drückte. Er tat es sehr langsam, als wollte er ihren Schreck verlängern, und er betrat auch nicht das helle Bad, sondern blieb auf der Schwelle stehen.
»Hallo, Mutter«, sagte René…
***
Marlene Urcan konnte sich ihre Reaktion selbst nicht erklären. Sie stand starr auf der Stelle, und sie bewegte sich auch nicht davon weg. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, obwohl sie noch immer in den Spiegel schaute, aber sie sah jede Einzelheit.
»Du…?«
»Ja, ich.«
»Aber du bist doch…«
»Nein, nein, Mutter, ich bin nicht mehr in der Klinik. Hat man dir das nicht gesagt?«
»Nein«, flüsterte sie erstaunt. »Ich bin auch in den letzten Tagen verreist gewesen, verstehst du?« Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch dazu war sie nicht in der Lage.
Ihr Herz schlug plötzlich so schnell, und sie war von einem Gefühl erfasst worden, das sie nur mit dem Begriff Angst beschreiben konnte.
Ja, sie verspürte Angst. Angst vor ihrem eigenen Sohn, der so plötzlich erschienen war. Bestimmt hatte man ihn nicht freiwillig entlassen, da war etwas passiert. Er musste aus der Klinik geflohen sein.
Und jetzt war er bei ihr. So wie sie ihn kannte. Natürlich trug er die Kleidung, die im vorletzten Jahrhundert modern gewesen war. Sein Gesicht hatte sich nicht verändert. Es zeigte noch immer diese Jugendlichkeit, obwohl er bereits über 30 war.
Aber die Augen! Nein, die gefielen ihr nicht. Der Ausdruck war so anders geworden. So kalt, so wissend, und möglicherweise sogar hinterhältig. Marlene merkte, dass ihr das Blut in den Kopf stieg. Sie spürte das Kribbeln auf dem Körper, an dem es keine Stelle gab, die davon ausgelassen wurde.
Trotzdem schaffte sie es, sich zusammenzureißen und brachte sogar ein gekünsteltes Lachen fertig.
»Das ist aber toll, dass du zu mir gekommen bist, René.«
»Ja, ist es, Mutter. Ich will dir auch sagen, dass es Zeit wurde, verstehst du?«
»Möglich. Hat man dir freigegeben?«
»Ich habe mir selbst freigegeben.«
»So ist das. Schön.« Sie lachte. Nur klang es nicht gut. Es fiel der Frau immer schwerer, die Normalität festzuhalten. Was sie hier erlebte, war nämlich nicht normal. Ausgesprochen hatte es niemand, aber sie spürte schon den Druck, der zwischen ihnen stand.
Der war wie eine mächtige Wand und sorgte dafür, dass das Verhältnis zwischen ihnen beiden gestört war.
Bisher war René an der Tür stehen geblieben. Das wollte er nicht mehr, deshalb ging er vor und nahm den direkten Weg zum Spiegel. Dabei verengte er seine Augen und schaute scharf in das Gesicht seiner Mutter.
»Gut siehst du aus.«
»0 danke.«
»Aber nicht mehr lange.«
Marlene musste schlucken. »Bitte?«, fragte sie dann. »Was meinst du damit?«
»Dass du nicht mehr lange gut aussehen wirst. Alles bei dir ist Maske und Tünche.«
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