1287 - Wiedersehen im Jenseits
beschwörenden Klang. Wenn er einen Menschen damit ansprach, dann musste sich dieser ganz dem Bann der Stimme hingeben.
So erlebte ich es auch hier, denn Ascot sagte: »Sie wissen, dass wir schon gute Fortschritte gemacht haben, Alwin?«
»Ich weiß es.«
»Und wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Das kann ich nicht so genau sagen.« Alwin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wie vor einer Prüfung.«
»Der Vergleich ist nicht schlecht, wirklich nicht schlecht. Die Spannung muss auch in dir sein, Alwin, dann ist die spätere Erlösung davon umso intensiver.«
»Das hoffe ich.«
Ich schaute mir Alwin an. Er stellte als Mann etwas anderes dar als der Psychologe. Alwin war groß, dunkelhaarig. Seine Haut zeigte die Bräune aus dem Sonnenstudio. Er trug ein weißes Hemd und eine Lederweste. Dazu eine Hose aus Leder und an seinen Handgelenken einige Fransen, die wohl so etwas wie eine Kette sein sollten. Er hatte ein schmales und sehr scharf geschnittenes Gesicht mit einer leicht gekrümmten Nase. Vom Typ her konnte man ihn als Latino-Lover ansehen.
Ich kannte auch Zuhälter, die ähnlich aussahen, aber ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so stark unter dem Druck einer anderen Person stand. Von Ascot schienen Ströme auszugehen, die einen regelrechten Bann aufrecht erhielten.
»Wir werden uns jetzt um die tiefsten Gründe deiner Ängste kümmern, Alwin. Um das, was sehr tief in deinem Innern verborgen liegt und das du von allein nicht beherrschen kannst. Ich mache den Versuch heute mit Puppen. Sonst habe ich oft Menschen genommen, doch die waren heute nicht greifbar. Ich denke schon, dass deine Fantasie ausreicht, um in den hinter dir stehenden Puppen Menschen zu sehen, die du als deine Ahnen ansehen kannst. Es sind vier. Zwei Männer und zwei Frauen. Sie können dir sympathisch oder unsympathisch sein, aber alle zusammen sind sie die große Seele, von der auch etwas in dir steckt. Das darfst du nicht vergessen. Und wenn du dich konzentrierst, wirst du es auch herausfinden können. Da bin ich mir ganz sicher.«
Alwin begann zu zittern. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er etwas sagte. Er hatte feuchte Augen bekommen, doch Tränen liefen nicht an seinen Wangen entlang.
»Bist du bereit?«
»Das bin ich.«
»Dann bitte…«
Alwin zögerte noch. Erst als Ascot nickte, drehte er sich sehr langsam um. Mit seinen steifen Bewegungen wirkte er beinahe so wie die vier Puppen.
Auch sie sahen unterschiedlich aus und waren es auch vom Alter her. Ein junger Mann, ein älterer, bewusst auf hässlich getrimmt mit seinem verschlagenen Blick und dem grauen haarlosen Schädel.
Bei den Frauen verhielt es sich ebenso. Die junge war schön, die alte glich einer Hexe, wie man sie von Bildern in Märchenbüchern kennt.
»Du siehst sie, Alwin?«
»Ja.«
»Wie gefallen sie dir?«
»Weiß nicht…«
»Du sollst deine Meinung sagen. In meinen Sitzungen wird nicht gelogen, Alwin. Das hatten wir ja schon besprochen. Also, was denkst du jetzt?«
Er war vor dem jungen Mann stehen geblieben. Er schaute ihm in das glatte Gesicht, das glänzte, als wäre es mit einer Ölschicht poliert worden. »Keine negativen Gefühle«, flüsterte er.
»Könnte er ein Freund von dir werden?«
»Ich glaube schon.«
»Das ist gut, mein Lieber. Jetzt sieh dir die Frau dahinter an, bitte.«
Alwin musste nur um eine Idee vorgehen, um neben ihr zu stehen - und zuckte zurück. Aus seiner Kehle drang ein krächzender Ruf. Für einen Moment fuchtelte er mit den Händen vor seinem Gesicht herum, als wollte er sich den Anblick der hässlichen Puppe ersparen. Er sträubte sich gegen das Bild und zitterte am gesamten Leib.
Ascot blieb locker hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er dachte auch nicht daran, zur Tür zu schauen, und das war mein Glück. So konnte ich weiterhin den stillen Beobachter spielen.
»Du magst sie nicht!«
»Richtig«, erwiderte Alwin knirschend. »Ich hasse sie sogar. Ja, ich hasse sie!«
»Sehr gut, denn das gehört dazu, mein Freund. So muss es sein. Es ist nicht alles glatt im Leben eines Menschen, und es war auch nie glatt in seiner Vergangenheit. Es gab immer wieder gute und schlechte Menschen. Jeder hat sein Erbgut übertragen, und das ist auch bei dir so gewesen, Alwin. Du hast von jeder der vier Personen etwas mitbekommen. Das Positive und auch das Negative. Das alles steckt in dir. Erst wenn dir das klar ist, kannst du es schaffen, deine Probleme zu überwinden. Dann brauchst du dich vor deinen eigenen Ängsten
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