1287 - Wiedersehen im Jenseits
nicht mehr zu fürchten. So sieht es aus, und nur so kannst du geheilt werden.«
Alwin nickte. Er wirkte jetzt erschöpft. Mir kam er vor, als wäre er nicht mehr er selber. Als befände sich in seinem Innern das, was sich zuvor in der Vergangenheit aufgehalten hatte, und zwar über Generationen hinweg, wobei es erst jetzt durch das Aufstellen der Puppen zum Vorschein kam. Und natürlich durch die suggestive Kraft des Psychologen.
»Du musst sie dir alle anschauen, Alwin, wirklich alle. In jeder Puppe steckt etwas von dir…«
»Ja, ja…«
Er ging den nächsten Schritt und blieb neben der Puppe stehen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Jetzt schaute er die junge Frau an, die sehr weiches Haar besaß und ein blaues Kleid mit tiefem Ausschnitt trug, aus dem die Brüste halb hervorquollen. Die langen roten Locken ließen sie wild aussehen, und selbst die Augen besaßen einen ähnlichen Ausdruck.
Ich konnte es ebenfalls sehen, da sich das Deckenlicht genau auf diese Szenerie konzentrierte. Tageslicht drang nicht durch die Fenster, denn vor deren Scheiben waren die Rollos herabgelassen worden, und die Lamellen schlossen sehr dicht.
»Sie ist so schön«, flüsterte Alwin.
»Ja, auch das gehört zu dir. Es gehört zu deinem Leben. Es ist zwar vergangen, aber noch immer existent. Das solltest du niemals vergessen. Es sind die guten Gefühle, die auch in dir stecken und die verstärkt werden müssen, um deinen Ängsten zu begegnen. Aber du musst dich ihnen auch stellen, Alwin. Nur wer das schafft, kann sich hinterher als Sieger fühlen. Geh bitte weiter.«
»Ich will nicht!«
Ascot war von der Antwort so überrascht, dass er zunächst nichts sagen konnte. Schließlich holte er laut Luft, und er senkte seine Stimme wieder. »Aber du musst gehen. Du kannst nicht anders, wenn du…«
Alwin sank etwas in die Knie und quängelte wie ein kleines Kind los. »Aber er ist so hässlich.«
»Nein, er ist negativ. Und negativ macht hässlich. Hast du das verstanden, Alwin?«
»Das habe ich.«
»Dann geh jetzt!«
Alwin war zwar überzeugt, aber auch sehr nervös. Er wischte seine Handflächen am Leder der Hose ab, auf dem nasse Streifen zurückblieben. Dann ging er wieder vor und stand neben der letzten Figur, einem Mann, der der Gatte der alten Hexe hätte sein können.
Der Mann war groß. Er wirkte trotzdem kleiner, weil er leicht gebückt stand. Das Haar sah aus wie mit Asche versetzt. Es umrahmte in Strähnen sein hässliches Gesicht, in dem besonders stark die Narben auffielen. Der Mund war verzogen und sah aus wie der Teil eines krummen Säbels.
Ich wunderte mich über Alwins Reaktion, da er nichts tat und nur die Puppe anschaute. Aber sein Zustand verschlechterte sich. Der Atem klang keuchend, fast röchelnd.
Sein schriller Hassschrei überraschte mich ebenso wie den Psychologen. Er hörte sich wirklich schlimm an. Er schien die Wände zerreißen zu wollen, er war einfach grauenhaft, und Alwin rammte seine Hände nach vorn und gab der ihm so verhassten Puppe einen heftigen Stoß.
Ein Mensch hätte sich möglicherweise auf den Beinen halten können. Bei der Puppe war dies nicht möglich. Sie bekam das Übergewicht, kippte nach hinten und schlug schwer auf dem Boden auf.
»Ich hasse ihn! Ich will ihn nicht! Er soll sterben! Er soll verschwinden…!«
Alwin drehte fast durch. Aber er wurde nicht aggressiv, sondern bewegte sich auf der Stelle und brach schließlich in die Knie. Er hockte auf dem Boden, schlug beide Hände gegen sein Gesicht und ließ die Tränen gegen seine Handflächen laufen.
War die Sitzung jetzt beendet? Wenn ja, dann musste ich den Raum betreten, denn zu lange wollte ich auch nicht als stiller Beobachter an der Tür bleiben.
Es kam anders, denn Abraham Ascot rollte seinen Stuhl ein kleines Stück zurück und erhob sich. Für einen Moment sah ich sein Gesicht besser, und mir entging nicht das triumphierende Lächeln. Er schien mit seiner Methode sehr zufrieden zu sein.
Nein, er ging nicht zur Tür, sondern nahm einen anderen Weg. Der Patient war jetzt wichtiger. Er litt unter starken Ängsten oder Depressionen. Alwin kniete auch nicht mehr auf dem Boden. Er hatte sich zur Seite gelegt und sich wie ein Embryo zusammengerollt.
Ascot blieb neben ihm stehen. Er rückte seine Brille zurecht und bückte sich dem Mann entgegen. Mit dem ausgestreckten Finger berührte er dessen Schulter.
»Wo Licht ist, gibt es Schatten, mein Freund. Und wo der Schatten ist, fällt auch das Licht
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