1292 - Die Blutbrücke
der Menschheit aufgehoben waren.
Ich hatte diese Tore als Spiegel erlebt oder als Wände, die sich durchschreiten ließen, und hier war ich durch den seltsamen Nebel eingehüllt worden, und es kam mir vor, als ob mich eine Kraft an den Füßen festhielt und allmählich nach unten zog, tief hinein in eine Sphäre, die man als Hölle bezeichnete und wo dann der Teufel auf mich wartete, um mich zu begrüßen.
Das Wort unmöglich hatte ich längst aus meinem Repertoire streichen müssen, und bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich wieder an Justine Cavallo, die in der vergangenen Nacht ihren Auftritt gehabt hatte. Auch sie war durch ein Tor aus einer anderen Welt gekommen, der Vampirwelt, die zu ihrer Heimat geworden war.
Das Hineingleiten in andere Dimensionen konnte auch bedeuten, dass sich das Zeitgefüge aufhob und ich hineinglitt in die Vergangenheit und miterlebte, was dort alles passiert war. Oft genug war es mir widerfahren, und so wartete ich mit einer gewissen Spannung darauf, was nun passieren würde.
Der Nebel war der perfekte Begleiter dieses Vorgangs. Er nahm mir den größten Teil der Sicht. Eines erkannte ich trotzdem: ich stellte fest, dass sich die Brücke allmählich auflöste.
Sie schwamm weg. Oder ich trieb dahin, und je tiefer ich sank, um so mehr geriet die Brücke ins Vergessen, weil ich etwas anderes zu sehen bekam.
Die Wesen tauchten in einer Entfernung auf, die ich nicht messen konnte. Hier waren die menschlichen Dimensionen einfach aufgehoben worden. Es gab weder Länge noch Breite noch Höhe. Mehr ein gefülltes Nichts, auch wenn es sich paradox anhörte, aber genau so empfand ich meine neue Umgebung. Trotzdem suchte ich nach einer Beschreibung oder einem Vergleich, weil ich schon viele dieser »Reisen« unternommen hatte, und diesmal kam mir der Begriff Totenreich in den Sinn. Nicht das Jenseits, an das die Menschen in meiner Kultur normalerweise glaubten, mich hatte es in eine andere Dimension getrieben, in der ebenfalls so etwas wie Heulen und Zähneknirschen herrschte.
Der Nebel hatte sich zurückgezogen, doch er war noch nicht ganz weg. Unterschiedlich dicht und schleierartig hing er in verschiedenen Höhen über dem Boden. Er schwamm dort, als hätte jemand irgendeine Lauge verteilt, setzte mir aber keinen Widerstand entgegen.
Wie lange es dauerte, bis ich mich an die neue Lage gewöhnte, wusste ich nicht. Ich dachte daran, was ich vorgehabt hatte: Einfach von einem Ende der Brücke bis zum anderen zu gehen. An sich eine lächerliche Wegstrecke, die ich auch jetzt nicht vergaß, denn ich setzte meinen Weg fort.
Ich ging geradeaus!
Einfach so. Es kam mir fast zum Lachen vor. Ich schritt aus, und ich schwebte zugleich, während sich allmählich aus dem Nebel die Fratzen hervorschälten, die meinen Weg begleiteten. Es war schwer und leicht zugleich, sie zu beschreiben. Grässlich verzogene Gesichter mit bleicher Haut, falls sie überhaupt vorhanden war. Dann spannte sie sich wie dünnes Papier über die Knochen hinweg.
Es gab andere, die mich einfach nur an Totenschädel erinnerten. Blank, glatt, wie poliert. Ohne Haut, nicht einmal einen Fetzen davon entdeckte ich. In der dünnen Nebelsuppe schwangen sie hin und her, sodass es manchmal aussah, als wollten sie verschwinden. Dann jedoch tauchten sie wieder auf, oft mit leichten Veränderungen. Da sah ich ihre Schädel regelrecht aufgebläht, und es kam auch vor, dass sie zerplatzten.
In dieser Welt, die so dunstig war, herrschte eine Luft, die mir bekam. Ich konnte ein- und wieder ausatmen. Wenn ich recht über mich nachdachte, ging es mir noch verhältnismäßig gut, denn keine dieser Gestalten griff mich an. Sie alle blieben in einer respektvollen Entfernung zurück.
Warum geschah dies? Wieso war ich überhaupt in dieser Sphäre gelandet? Was wollte man hier von mir?
Es hatte für mich jetzt keinen Sinn, mir darüber Gedanken zu machen, denn ich brauchte mich auch nicht zu wehren.
Stattdessen fiel mir ein, wie der Fall begonnen hatte. Eben mit diesem Foto, auf dem ich zwei Mal zu sehen gewesen war. Einmal normal und zum zweiten mit den Gedanken des Mannes auf dem Bild, der selbst darauf zu sehen war, wie er mir ein Messer durch den Hals stoßen wollte.
Er war schließlich durch die Kugeln der Polizisten gestorben. Zuvor hatte er noch den Hinweis auf die Blutbrücke geben können, und ich wusste auch, dass er in der Lage war, eben seine Gedanken auf die Fotografie zu bannen.
Wie das hatte passieren können, war und blieb
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