1292 - Die Blutbrücke
nicht scharf darauf, die Blonde wiederzusehen.«
Er grinste. »Starke Frau. Die sah toll aus. Ein richtiger Schuss.«
»Ja, höchstens in den Ofen. Wenn du dich an die heranmachst, bist du verloren. Hast du gesehen, wie die kämpfen kann? Wie schnell sie ist, und sie scheint mir kugelfest zu sein. Sie wurde angeschossen, und nichts ist passiert. Ein weiblicher Vampir!« Angela schauderte. »Wenn ich ehrlich sein will, kann ich das noch immer nicht glauben. Das ist einfach zu hoch für mich.«
»Aber nicht heute.«
»Wieso?«
»Es sind die Stunden vor Halloween.«
Angela schaute nach links. Erst jetzt merkte sie, dass ihr Kollege angehalten hatte. »Ja, du hast Recht«, gab sie leise zurück, und ihr Blick erhielt einen anderen Ausdruck. »Halloween. Kann das Erlebnis in London vielleicht ein Halloween-Spaß gewesen sein? Können wir davon ausgehen?«
»Vorgezogen! Ja, das wäre toll. Leider glaube ich daran nicht. Das war schon verdammt echt. Außerdem möchte ich den Toten nicht eben als einen Spaß ansehen.«
»Stimmt auch wieder.« Sie schaute nach vorn. Einige Blätter lagen auf der Scheibe. Weitere trudelten zu Boden, und der Himmel hatte das Grau der ersten Dämmerungsstufe angenommen. Das Licht der Scheinwerfer warf einen glänzenden Schein auf das Laub.
»Warum fährst du nicht weiter?«
»Weil ich nicht weiß, ob ich nach rechts oder links fahren soll. Das musst du mir schon sagen.«
»'Tschuldigung.« Angela blickte wieder auf ihre Notizen. »Wir müssen nach rechts fahren, dann haben wir es so gut wie geschafft. Die Straße führt zum Ziel.«
»Super.« Er fuhr wieder an. Um diese Zeit hatte der Verkehr stark nachgelassen. Seit in Baden-Baden der Tunnel gebaut worden war, wurde der Durchgangsverkehr unterirdisch weitergeleitet. Wer auf die Schwarzwaldhochstraße wollte, der nahm diese Strecke, und das hatte der Stadt sehr gut getan.
Alte Villen, Vorgärten, die ein herbstliches Bild zeigten. Kleine Pensionen für die Kurgäste, Hinweisschilder auf Anlagen und Parks - das alles interessierte sie nicht. Sie folgten der Straße, die für beide nichts Unheimliches hatte und weiter geradeaus in Richtung Blutbrücke führte.
Der Himmel verdichtete sich immer mehr zu einer grauen Masse, die nur bedingt helle Ausschnitte zeigte. Und trotzdem hatte sich etwas verändert, denn die ersten Kinder waren unterwegs. Sie läuteten gewissermaßen den Halloween-Abend ein. In Gruppen oder mit ihren Eltern zogen sie los, verkleidet durch abenteuerliche und gruselige Kostüme, behängt mit Taschen und Beuteln, um all die Süßigkeiten aufzunehmen, die ihnen die Erwachsenen gaben. In den letzten Jahren hatte sich das Fest schnell über Europa ausgeweitet, und auch Deutschland war nicht davon verschont geblieben, wo man doch hier knapp zwei Wochen später St. Martin feierte.
Laternen gaben ihren schummerigen Schein ab. Ihr Licht verfing sich in dem oft kahlen Geäst der Bäume und glänzte auf den bunt angemalten Herbstblättern.
»Das ist schon der Fluss«, meldete Angela. »Aber der teilt sich noch. Unter der Brücke fließt dann der Kanal her.«
Jens musste lachen. »Hast du Fluss gesagt?«
»Ja, mein Gott, nimm das nicht so genau. Mehr ein Flüsschen.«
»Das meine ich auch.« Seine Stimme war bei der Antwort versickert, und er runzelte die Stirn. Jetzt fuhr er auch langsamer, denn ihm war etwas aufgefallen. Normalerweise hätte er darüber hinweg gesehen, doch in diesem Fall sah er die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Sie waren einem Phänomen auf der Spur, für das es keine Erklärung gab, und da betrachtete man sich die Umgebung schon mal mit anderen Augen.
Er hatte vorgehabt, die Brücke zu überfahren, was völlig normal gewesen wäre. Jetzt war ihm die Idee gekommen, davon Abstand zu nehmen. Er spürte so etwas wie eine Warnung in sich, betätigte den Blinker und rollte rechts an den Straßenrand, denn dort hatte er eine freie Parklücke gesehen.
»He, was machst du?«
»Anhalten.«
»Das sehe ich selbst. Aber warum?«
»Frag nicht, Angela, steig aus und nimm deine Kamera mit.«
Sie war schon verwundert über die Reaktion ihres Kollegen, widersprach jedoch nicht, sondern schnallte sich los, nahm die Kamera und öffnete die Tür. Dabei überkam sie das Gefühl, eine schützende Hülle verlassen zu haben, wobei der Weg sie jetzt in die kalte Fremde führte, die nicht eben von Freunden besetzt war.
Ihr Kollege schlug an der anderen Seite die Wagentür zu. Angela schrak leicht zusammen. Dann
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