1292 - Die Blutbrücke
Wunsch, einfach nicht hinzuschauen, schaffte es jedoch nicht. Sein Kopf schien an zwei Seiten fest gehalten zu werden, damit sich sein Blick auf die Buchstaben konzentrierte, die sich bewegten.
Sie gerieten in leichte Schwingungen. Sie schoben sich hoch, wieder zurück, sie glitten auch zur Seite und fingen dabei an, sich aufzulösen. Das Eisen weichte auf. Es verwandelte sich in eine zäh fließende Masse, die sich nach unten und zu den Seiten hin ausbreitete, sodass dieses Wort sich in eine schmierige Schrift verwandelte, ohne dass jemand etwas dazu getan hätte. Es war einfach so.
»Allmächtiger, Jens, was ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Angela musste lachen, und es klang schrill. »Wir befinden uns auf der Blutbrücke, Jens. Wir stehen hier und schauen zu, wie sie ihrem Namen alle Ehre macht. Weißt du, was das ist? Das ist Blut. Ja, verdammt, das ist Blut, in das sich die Buchstaben verwandeln! Das Eisen löst sich einfach auf. Es ist weich geworden…«
Sie brauchte nichts mehr zu erklären. Trotzdem wollte Jens es genau wissen. Bevor ihn Angela davon abhalten konnte, streckte er seine Hand der veränderten Schrift entgegen und berührte sie mit der Spitze seines linken Zeigefingers.
»Ja, das ist Blut.« Er hielt den Finger ausgestreckt in die Höhe. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Manch einer hätte probiert, aber Jens traute sich das nicht und roch nur daran. Dann wischte er die Fingerkuppe am Geländer ab.
»Und jetzt?«, flüsterte Angela.
Auch Jens war ratlos. Es brachte jedoch nichts ein, wenn er ihr das sagte und sie noch mehr verunsicherte. Er musste sich jetzt zusammenreißen und etwas unternehmen.
»Ich denke, dass wir genug gesehen haben, Angela. Komm jetzt! Ich will hier weg!«
»Gott sei Dank.«
Beide drehten sich um. Die verschmierten und weichen Buchstaben interessierten sie nicht mehr, und beide hatten auch vor, die Flucht zu ergreifen, aber das gelang ihnen zunächst nicht. Was sie sahen, nagelte sie auf der Stelle fest.
Über die gesamte Fahrbahn hatte sich der bleiche Dunst gelegt. Er konnte nicht vom Wasser in die Höhe gestiegen sein. Das hätten sie gesehen. Die Veränderung hatte sich hinter ihrem Rücken abgespielt. Der Nebel war wie eine riesige Woge, die sich von der anderen Seite der Brücke her näherte und lautlos über sie hinwegglitt. Er rollte heran. Unsichtbare Hände schienen ihn zu schieben, und kein Laut drang an ihre Ohren. Er schluckte alles, aber sie sahen auch, dass es sich um keinen normalen Nebel handelte, denn in dieser grauen Masse bewegte sich etwas, weil es von dem Dunst transportiert wurde.
»Da ist doch was, Jens…«
Er nickte nur. Dann spürte er den Griff seiner Kollegin am linken Oberarm. Eigentlich wäre es jetzt für sie an der Zeit gewesen, zu verschwinden, doch sie waren wie gebannt. So blieben sie stehen und starrten auf das, was ihnen da entgegenrollte.
Die graue Wand bewegte sich in ihrem Innern. Und dort bestand sie nicht nur aus Nebel, denn vier Augen sahen die schattenhaften Gestalten mit ihren hässlichen Gesichtern, die keine mehr waren, sondern nur alte Totenfratzen. Manche mit einer dünnen Haut bezogen. Andere wiederum ließen ihre bleichen Knochen glänzen. Krallen streckten sich ihnen entgegen. Totenmäuler waren weit aufgerissen, als wollten die unheimlichen Wesen ihre Not hinausschreien.
Zu hören war nichts. Die Stille blieb. Sie drückte. Sie war mit einem Anzug zu vergleichen, in den die Zuschauer hineingepresst wurden. Sie mussten sich ihnen voll und ganz hingeben.
»O Gott«, flüsterte Angela nur. »Weißt du, was… was das ist, Jens?«
»Nein.«
»Ich aber.« Sie nickte heftig. »Das sind die Toten, Jens«, erklärte sie mit einer Stimme, die nicht ihre eigene zu sein schien. »Das sind die Geister der Toten, die uns holen wollen…«
***
Heiko Fischer war nervös. Er hatte seinen Platz auf dem Beifahrersitz des Omega gefunden, hustete hin und wieder gegen seinen Handrücken oder schaute aus dem Fenster, wobei er nicht eben glücklich aussah.
»Halloween…«, flüsterte er plötzlich.
»Was sagen Sie?«
»Ja, das Fest der Toten. Der Geister. Was auch immer. Noch vor einem Jahr habe ich darüber gelacht. Ich habe den Spuk auch nie mitgemacht. Das habe ich anderen überlassen, aber jetzt sehe ich das alles mit völlig anderen Augen.«
»Mit welchen denn?«
»Ob Sie es glauben oder nicht. Ich sehe es mit den Augen der Angst. Ja, verdammt, ich habe Angst. Nach dem, was ich auf der Brücke erlebt
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