1293 - Halloween-Horror
Schrecksekunde nicht so lange wie bei der Kollegin. Es gab kein Halten mehr. Plötzlich wurde er zum Sprinter. Er sah nichts anderes mehr, er war voll und ganz auf Harry Stahl konzentriert, der die richtige Zielposition gefunden hatte und die Mündung der Waffe jetzt auf den Kopf richtete.
»Ich kille dich!«, erklärte Heiko Fischer.
»Nein, du bist dran!«
Jens Rückert kam sich in diesem Moment vor wie ein Filmheld. Er flog heran, schlug zu, und genau da fiel der Schuss…
***
Ich stand da und war der Beobachter des Grauens. Ich spürte, wie es mir gut ging. Wie ich mich freute, dass ich es allein durch meine Gedanken geschafft hatte, dass sich die Menschen gegenseitig hassten, sich bekriegten und letztendlich umbrachten.
Das machte Spaß. Das war Leben von der rückwärtigen Seite aufgezogen. All das, was einem Menschen hoch und heilig war, musste zerstört werden, nur so blieb der grausame Spaß, und nur so konnte die Hölle letztendlich einen Sieg landen.
Sie schlugen aufeinander ein. Einige von ihnen bluteten bereits. Besonders die Frauen konnten sich nicht so wehren. Dann griff jemand zu einer Flasche. Er zerschlug sie zur Hälfte und behielt den gezackten Hals fest. Er war schon schrecklich genug mit seinen blutig ummalten Augen in einem bleichen Gesicht, doch nun sah er noch wilder und gefährlicher aus.
»Ich zerschneide euch eure Fratzen!«, brüllte er, »ich will Blut sehen Blut…« Er rannte los, und ich verlor ihn aus den Augen. Trotzdem wollte ich mich an diesem Spaß ergötzen.
Wollte ich das wirklich?
Plötzlich hatte ich Zweifel. Und ich merkte wieder, dass ich zurück zu mir selbst fand. Nun stellte ich fest, dass ich noch immer mein Kreuz umfasst hielt. Es gab mir eine gewisse Sicherheit. Es war etwas, das ich kannte, bisher aber vergessen hatte.
Etwas lief falsch…
Fremde Stimmen schwirrten durch meinen Kopf. Dennoch kannte ich sie. Irgendwo hatte ich sie schon mal gehört. Geisterstimmen, die mich aufrüttelten. Ich hörte nicht, was sie sagten, aber bei mir passierte im Kopf der umgekehrte Vorgang.
Das Fremde wurde zurückgedrängt, und etwas anderes nahm an seiner Stelle den Platz ein.
»John Sinclair… Sohn des Lichts…«
Himmel, wer war das?
»John!«
Ich schaute nach oben. Schwirrte ein Licht über mir? Ja, das Licht einer Lampe, die ihren Strahl nach vorn schoss. Zugleich malte sich in diesem hellen Streifen etwas ab, das ich nicht als festen Gegenstand sah, sondern als einen etwas dunkleren Schatten.
Es war ein Kreuz! Das Zeichen des Sieges. Nur war es nicht irgendein Kreuz, sondern mein Kreuz, das ich als Sohn des Lichts besaß. Ich wusste nicht, wie es als Umriss dorthin kam, bis ich auf meine rechte Hand blickte, die nicht mehr in der Tasche steckte. Aus ihr schaute das Kreuz hervor, das im Licht einen derartigen Umriss erzeugte.
Plötzlich hörte ich einen Schuss. Danach einen Schrei und aus meinem Kopf zog sich etwas mit einen ziehenden Schmerz zurück, während das Schattenkreuz innerhalb des Lichts verschwand.
Ich blickte auf meine Hand.
Ich lebte wieder. Mich durchströmte ein gutes, ein warmes Gefühl des Vertrauens, und es war eine Folge davon, dass ich mein Kreuz hochnahm und es gegen meine Lippen drückte…
***
Das Grauen hatte nur kurze Zeit gedauert. Es war wieder anders geworden, normal. Die jungen Leute schlugen nicht mehr aufeinander ein. Sie standen wie verloren auf ihren Stellen, blickten sich an, sahen in manchen Gesichtern Blut, hörten das Weinen und Keuchen, und dann gab es ein klirrendes Geräusch, als dem jungen Mann der gezackte Flaschenhals aus der Hand fiel und am Boden zerbrach.
Harry Stahl schaute fassungslos auf seine Waffe. Er hatte geschossen, aber die Mündung war nach unten gerichtet. Neben ihm stand Heiko Fischer und presste eine Hand gegen seine Lippen.
Noch näher hielt sich Jens Rückert bei Harry auf. »Ich habe ihn gehindert. Er hätte geschossen. Er hätte ihn erschossen! Verstehen Sie das, John? Er hätte ihn tatsächlich erschossen. Ich konnte den Arm im letzten Moment nach unten schlagen.«
»Man versteht so vieles nicht«, sagte ich. »Und manchmal ist es gut, wenn es auch so bleibt.« Ich nickte Harry zu. »Nicht wahr?«
»Sag bitte nichts mehr, John.«
»Ist schon okay.«
In der Nähe blitzte es, weil Angela Finkler Fotos schoss. Es konnten durchaus diese Blitze gewesen sein, die bei mir den Gedanken an Justine Cavallo aktivierten.
Schlagartig war ich wieder nervös. Ich musste wissen, was mit ihr
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