1293 - Halloween-Horror
ihrem Gesicht nach einer Spur von Falschheit, denn mir war klar, dass sie mir ein derartiges Angebot nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit machte. Nein, da steckte etwas Böses dahinter. Ein spinnennetzartiger Plan, in dem ich mich verfangen sollte.
»He, willst du nicht?«
»Was hast du vor?«, flüsterte ich.
Vor ihrer Antwort zeigte sie mir mit einer lässigherrischen Handbewegung, wer hier das Sagen hatte.
»Dreh dich um. Man wartet auf dich. Du wirst sehen, dass ihnen nichts geschehen ist. Sie alle haben zugeschaut. Sie alle haben gesehen, aber sie haben nichts begriffen. Denn nur du bist in der glücklichen Lage.«
»Glücklichen Lage«, wiederholte ich. »Okay, ich werde dir den Gefallen tun, Justine.«
»Bitte.«
Wenn ich ging, musste ich ihr den Rücken zudrehen. Das konnte ich ohne Sorgen tun, denn ich bezweifelte, dass sie mir in den Rücken schoss. Nein, nein, sie war kein normaler Killer. Sie besaß andere Methoden.
So wandte ich mich auf der Stelle um und schaute zunächst nach vorn, ohne einen Schritt zu gehen.
Es war meine Welt. Noch immer blinkten die Lichter der Absperrung. Auch weiterhin standen die Halloween-Fans auf der Brücke. Nach feiern war ihnen nicht zumute.
Der Punk lag noch immer an der gleichen Stelle. Sein rotes Haar ließ den Kopf so aussehen, als wäre er in verdünntes Blut getaucht. Das konnte auch am Licht liegen, das darüber hinwegfloss und die Farbe eben so verschmierte.
Ich sah Harry Stahl. Ich sah auch Heiko Fischer neben ihm stehen. Sie waren nicht verkleidet und wirkten hier wie Fremde. Harry schaute mich starr an. Er hatte seinen Kopf nach vorn gedrückt und wirkte wie ein Mensch, der nach etwas sucht.
Die ersten Schritte. Natürlich nicht kräftig und federnd, sondern leicht schleppend. Ich zog dabei die Sohlen über den Boden und wischte auch über das glatte Laub hinweg. Feuchtigkeit verwandelte sich in dünnen Dunst, der vom Kanal her in die Höhe stieg und wieder in seichten Fahnen über die Brücke wehte.
Es passierte nichts. Auch nach dem zweiten und dritten Schritt nicht. Ich ging normal weiter, nur hütete ich mich davor, so etwas wie Triumph zu empfinden. Das war nicht der richtige Zeitpunkt. Eine Hand hatte ich in die Tasche meiner Jacke geschoben und die Finger gegen das Kreuz gelegt, das keinen Wärmeschub abgab.
Ausgeschaltet, abgesperrt. Diese und ähnliche Begriffe schwirrten durch meinen Kopf, während ich auf die Wartenden zuging. Mit jedem Schritt, den ich zurücklegte, stieg etwas in mir hoch, das ich nur mit dem Wort Spannung umschreiben konnte.
Es war etwas mit mir geschehen. Es steckte noch in mir und jetzt wartete ich förmlich darauf, dass es zum Ausbruch kam, aber da musste schon irgendwas passieren.
Und es geschah!
Ein Blitzstrahl traf meinen Kopf. Nicht von außen, sondern von innen, und er raste wie ein Rad durch den Schädel, um möglichst an jede Stelle zu gelangen.
Ich blieb stehen, taumelte aber nach vorn, wie jemand, der verzweifelt Halt sucht.
Eine Mauer war nicht da. Ich konnte mich trotzdem auf den Beinen halten, atmete tief durch und drückte meinen Körper wieder hoch. Es war alles wie immer, nur eines hatte sich geändert. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es waren nicht meine. Es waren auch nicht meine Vorstellungen, denn sie wurden von Hass getrieben. Plötzlich wünschte ich mir das herbei, was mir die Vergangenheit gezeigt hatte. Das Grauen sollte leben. Es sollte wieder zurückkehren, und ich würde es durch mich selbst produzieren, wobei es dann auf andere überging.
Die Verkleideten bewegten sich. Sie wandten sich einander zu. Da war nichts mehr von Sympathie zu spüren. Jetzt regierte bei ihnen der blanke Hass und Vernichtungswille.
Im Hintergrund hörte ich Justine Cavallo so laut lachen, als wäre sie der Teufel persönlich, der sich darüber freute, dass die Welt aus den Fugen ging.
»Ich hasse dich!«, brüllte eine Frauenstimme so laut, dass sie sich überschlug.
Ein anderer schlug einfach zu. Er traf den neben ihm stehenden Mann mitten ins Gesicht. Die Haut an der Nase platzte auf, und Blut spritzte auf das blasse Leichenhemd.
Ich musste eingreifen. Frieden stiften. Es nicht bis zum Äußersten kommen lassen. Aber wollte ich das wirklich?
Ich war mir nicht mehr sicher. Irgendwas lief in meinem Kopf anders ab. Ich merkte selbst, dass sich mein Mund zu einem Lächeln verzog, obwohl ich das nicht wollte. Wer mich so sah, der konnte nur zugeben, dass es mir Spaß machte, zuzuschauen,
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