1294 - Der kopflose Engel
Gefühl in ihm blieb schon bestehen. Ein gewisser Druck, eine Ahnung. Möglicherweise sogar ein Wissen, dass irgendetwas passieren konnte oder passiert war.
Äußerlich war nichts zu sehen. Wohin er seinen Kopf auch drehte, die Umgebung blieb in ein tiefes Schweigen gehüllt. Er vernahm auch keine schnellen Schritte, es war und blieb still. Zudem filterte der Nebel zahlreiche Geräusche, doch auch die Reste erreichten ihn nicht, und von der weiter entfernt liegenden Straße drang ebenfalls nichts an seine Ohren.
Adrian Morton merkte sehr genau die Gänsehaut. Es war wie das Kribbeln unzähliger Spinnenbeine, das ihm über den Rücken kroch. Hinter seiner Stirn pochte es. Im Gesicht schwitzte er plötzlich.
Einen Grund dafür kannte er nicht, es war einfach so, und seine Gedanken drehten sich wieder um Mabel Denning.
Sie tauchte nicht im Nebel auf, und so machte sich der Küster auf den Weg.
Morton hatte nicht gezählt, wie oft er die Strecke bis zur Kirche gelaufen war. Er kannte sie im Schlaf. Er kannte jeden Stein, jeden Baum, jeden Busch, aber das war an diesem Abend alles anders.
Es gab keine Beweise. Der hoch gewachsene Mann mit den grauen Haaren verließ sich einfach nur auf sein Gefühl, und das blieb auch den Rest der Strecke so mies.
Kahle Bäume bildeten eine lichte Wand zwischen seinem Haus und der Kirche. Jetzt im Nebel wirkten sie unheimlich, wie stumme tote Riesen, die sich in die Höhe reckten und ihn beobachteten.
Laub lag auch nicht auf dem Boden, obwohl er schon einige Säcke damit gefüllt hatte, die abtransportiert worden waren. Noch immer wieder fiel etwas nach, und in der feuchten Witterung klebte es am Boden fest.
Die Kirche schälte sich hervor. Sie kam ihm plötzlich sehr düster vor. Eine Kirche sollte den Gläubigen einladen, zu ihr zu kommen. Dieses Gefühl hatte Morton zu dieser Zeit nicht. Er sah sie auch nicht als neutral an, sondern mehr als Festung, die ihn abwehren sollte, ein Gefühl, das ihm ebenfalls fremd war.
Adrian Morton bewegte den Kopf nach links und rechts, aber er bekam nichts zu Gesicht, was ihn wirklich gestört hätte. Alles zerlief in diesen weichen Nebelschleiern.
Und Mabel Denning zeigte sich noch immer nicht. Er ging davon aus, dass sie sich in der Kirche aufhielt.
Jetzt ärgerte er sich darüber, dass er keine Lampe mitgenommen hatte. Nun ja, es war nicht zu ändern. Er musste durch, und er spürte die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht wie dünne, feuchte Finger.
Er blieb stehen.
Bei normaler Sicht hätte er die Tür längst sehen können. So aber verschwand sie wie hinter einem dünnen Vorhang. Trotzdem konzentrierte er sich auf sie. Er starrte hinein. Er wollte sehen, ob er sich wirklich täuschte, und er schüttelte plötzlich den Kopf, als er sah, dass er keine Täuschung erlebte.
Genau dort, wo die Tür ihren Platz hatte, sah er die Veränderung. Das Grau der abendlichen Nebelwand war verschwunden und hatte einer gewissen Schwärze Platz geschaffen, die sich auf einen bestimmten Punkt begrenzte.
Ja, das war es!
Es gab keinen Zweifel. Da hätte er mehrmals über die Augen wischen können, die Tür stand offen.
Sofort jagte die Vorstellung in ihm hoch, dass etwas passiert sein musste. Für Morton gab es keine andere Erklärung. Jemand hatte die Tür nicht mehr geschlossen, nachdem er die Kirche verlassen hatte. Es gab nur die Lösung, dass es Mabel Denning gewesen sein musste. Und genau das wunderte ihn. Sie hatte es nie getan. Es war immer normal gewesen. Sie war aus der Kirche gekommen und hatte die Tür wieder hinter sich geschlossen. An diesem Abend nicht.
Warum?
Die Frage empfand er wie einen Schrei und eine Warnung zugleich. Er war jetzt davon überzeugt, dass etwas passiert war, und das hing mit der Frau und dem Engel zusammen.
War sie noch in der Kirche oder hatte sie den Bau schon verlassen?
Adrian Morton wusste es nicht. Er lauschte, um ihre Stimme oder Schritte zu hören.
Es blieb still.
Adrian Morton wusste im Moment nicht, was er unternehmen sollte. Er blickte auf die dunkle Öffnung, die ihm irgendwie Furcht einjagte, ihn zugleich aber auch anzog.
Der Küster entschied sich für die zweite Möglichkeit. Er musste in die Kirche hineingehen, um endlich Klarheit zu finden. Denn die Furcht um Mabel Denning ließ ihn nicht los.
Es war schon seltsam, wie fremd ihm die Kirche in diesen langen Momenten vorkam. Fast heidnisch. Von allen Segnungen verlassen. Ein düsteres Bauwerk mit offener Tür, hinter der Bekanntes lag, an das er
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