13 kleine Friesenmorde
Morgen nach Hause fand, oft betrunken, und er griff auch nicht ein, wenn der Sohn tagelang sein Kinderzimmer nicht aufsuchte.
Uwe Mulart lebte bescheiden, bezahlte, wenn Andy ihm Rechnungen über Klamottenkäufe vorlegte, unterschrieb Entschuldigungen, ohne deren Texte zu lesen. Er vertraute dem Sohn, der ihm viele Wege abnahm, denn Uwe Mulart verbrachte die meiste Zeit des Tages vor dem Fernseher. Unten im Treppenhaus stand sein Rollstuhl, den er für seine Einkäufe und mehr noch zum Besuch der »Hanse-Kneipe« benutzte.
Am Morgen des 14. März 1999 saß er auf dem Balkon, genoss die Strahlen der Frühjahrssonne, blickte auf die ungepflegte Grünanlage, trank ein Bier und schimpfte mal wieder über das »Luder«, das ihn, den Krüppel, mit dem ehemaligen Nachbarn, dem potenten Chemie-Ingenieur, betrogen und verlassen hatte, sich weder um ihn noch um Andy kümmerte. Das Läuten der Wohnungstür riss ihn aus seinen Grübeleien. Er langte nach seinen Krücken, schleppte sich durch das aufgeräumte Wohnzimmer zum Korridor, öffnete die Tür und blickte überrascht auf die beiden jungen Männer, die Mitte dreißig und leger gekleidet waren, wie er feststellte.
»Krüppel Mulart kauft nichts. Er benötigt kein Abo, keine Versicherung! Auf Wiedersehen!«, schimpfte er unwirsch und bemühte sich, die Tür zu schließen.
»Mein Name ist Kallen, Kripo. Das ist mein Kollege Juppen. Herr Mulart, wir wünschen Ihren Sohn zu sprechen«, sagte der Besucher und wies sich aus.
»Wie Sie sehen, bin ich behindert. Verkehrsunfall. Mein Sohn ist nicht zu Hause. Er kommt und geht. Erbesucht um diese Zeit die Schule«, antwortete der Krüppel.
»Es tut uns Leid, Herr Mulart, aber Ihr Sohn flog von der Schule«, antwortete der Beamte. »Das liegt schon eine Weile zurück. Er hat den Rektor der Nevermann-Realschule mit einem Messer bedroht. Die Lehrerkonferenz sah in ihm einen gewalttätigen Aufwiegler der Klasse.«
»Diese Mitteilung muss Ihnen zugegangen sein«, sagte Kommissar Juppen.
»Ich erinnere mich nicht daran. Kann sein. Ich bin oft abwesend«, sagte Mulart.
Seine Hände zitterten. Er trug einen Trainingsanzug. Er war schlank. Seine rechte Schulter war abgeneigt, seine Kopfhaltung steif. Er hatte welliges, angegrautes Haar. Über seine Stirn lief eine tiefe Narbe.
»Und was wollen Sie von Andy?«, fragte er verunsichert.
»Er und seine Komplizen überfielen am 14. Februar um 23.50 Uhr einen Linienbus an der Endstation Kirchdorf-Süd«, sagte Kommissar Kallen. »Sie hatten sich mit Schals und Kapuzen vermummt. Andy hielt der Busfahrerin ein Messer an die Kehle. ?Scheiße, eine Frau!?, hat er gerufen, wie einer der Fahrgäste aussagte. Dabei hinterließ Ihr Sohn einen Fingerabdruck am Armaturenbrett. Der führte uns auf seine Spur. Da war im vorigen Jahr der Einbruch in den Edekamarkt auf der Karl-Marx-Straße. Der Amtsrichter hatte Gnade vor Recht ergehen lassen. Ihr Sohn und seine Komplizen hatten nur Bierdosen mitgehen lassen.«
»Meine Rente reicht für uns beide. Er bekommt von mir Geld genug. Meine Frau hat den Bengel versaut und kümmert sich keinen Deut um ihn. Überfall, sagtenSie – wie hoch war die Beute?« Er verzog seinen Mund und verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß, wobei er die Krücken mit eckigen Bewegungen bediente. Seinem Atem entströmte die Bierfahne.
»Es waren 95 Mark«, sagte Juppen.
»Die erstatte ich den Opfern. Noch zwei Jahre, dann ist Andy 18! Dann setze ich ihn an die Luft«, antwortete der Rentner.
»Wir werden Ihrem Sohn eine Vorladung schicken. Wenn er diese nicht befolgt, dann setzen wir ihn auf die Fahndungsliste«, sagte Kommissar Kallen.
»Irgendwann muss ihm der Wind mal von vorne kommen«, fügte Kommissar Juppen hinzu.
Der Alte nickte. »Ziehen Sie Andy zur Verantwortung! Ich sorge mich um seine Zukunft.«
»Mit Recht, wie uns scheint«, meinte Kallen.
Er und Juppen gingen zur Treppe und verließen das Haus.
Andy Mulart und seine gleichaltrigen Bandenmitglieder, die wie er so genannten »sozial schwachen« Familien angehörten, wurden gefasst. Sie alle wohnten in den Blocks. Sie trugen Klappmesser, Schlagringe und scharfe Pistolen bei sich. Bei den Wohnungsdurchsuchungen fahnden die Beamten Handgranaten, die sie für 50 Mark rund um St. Pauli verkauften. Bei dem Jüngsten der Bande hing eine Kalaschnikow mit vollem Magazin an der Wand seines Zimmers.
Erschreckend war dabei die Tatsache, dass sich die Eltern weder ihrer Mitverantwortung bewusst waren noch
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