13 - Wo kein Zeuge ist
einem Notizbuch. »Die Sitte sagt, die Beschreibung passt auf keinen der ihnen bekannten Stricher irgendwo in der Stadt. Aus dem Milieu wird auch niemand vermisst, jedenfalls bislang.«
»Kontaktieren Sie die Sitte der Reviere, wo die anderen Opfer gefunden wurden«, wies Lynley Barbara an. »Sehen Sie zu, ob dort jemand vermisst wird, den wir einem der Opfer zuordnen können.« Er trat zu einer der Tafeln und betrachtete die Bilder des jüngsten Opfers. John Stewart schloss sich ihm an. Wie üblich strahlte der Inspector eine nervöse Energie aus, gepaart mit seiner Detailbesessenheit. Die aufgeschlagene Seite seines Notizbuchs zeigte eine vielfarbige Skizze, deren Sinn nur er kannte. Lynley fragte ihn: »Was gibt es für Neuigkeiten von jenseits des Flusses?«
»Noch nichts reingekommen«, antwortete Stewart. »Ist noch keine zehn Minuten her, dass ich bei Dee Harriman nachgefragt habe.«
»Wir brauchen eine Laboruntersuchung des Make-ups, das der Junge trägt, John. Versuch bitte, ob du den Hersteller ermitteln kannst. Möglicherweise hat unser Opfer es nicht selbst aufgetragen. Wenn das der Fall ist und das Make-up nicht irgendeine Marke ist, die es in jedem Drogeriemarkt in der Stadt gibt, könnte der Ort, wo es erworben wurde, uns auf die richtige Spur bringen. Und stell unterdessen zusammen, wer vor kurzem aus der Haft und den forensischen Kliniken entlassen worden ist. Und Entlassungen aus dem Jugendstrafvollzug im Umkreis von hundert Meilen auch. Und das gilt für beide Seiten, denk daran.«
»Beide Seiten?« Stewart sah von seinem eiligen Gekritzel auf.
»Unser Mörder könnte vor kurzem entlassen worden sein. Aber ebenso unsere Opfer. Bis wir diese vier Jungen identifiziert haben, wissen wir überhaupt nicht, womit wir es eigentlich zu tun haben, abgesehen vom Offensichtlichen.«
»Einem geisteskranken Schwein nämlich.«
»Die letzte Leiche liefert ausreichende Beweise für diese Schlussfolgerung«, stimmte Lynley zu. Sein Blick wanderte, während er sprach, zu diesen Beweisen, als werde er gegen seinen Willen dorthin gelenkt: Der lange Schnitt im Oberkörper, posthum beigebracht, das mit Blut gemalte Symbol auf der Stirn, der fehlende Nabel und das Detail, das niemand gesehen und fotografiert hatte, ehe man die Leiche erstmals bewegt hatte: Die Handflächen, die so verbrannt waren, dass das Fleisch schwarz geworden war.
Lynleys Blick glitt weiter zu der Liste der anstehenden Aufgaben, die er am gestrigen langen Abend geschrieben hatte, ehe sie das Team zusammenstellten: Beamtinnen und Beamte klopften an jede Tür in der näheren Umgebung der bisherigen Leichenfunde; andere Beamte überprüften frühere Verhaftungen auf der Suche nach minder schweren Straftaten, die Anzeichen eines möglicherweise eskalierenden Verhaltens trugen, das zu den Morden führen konnte, mit denen sie sich jetzt konfrontiert sahen. Das war alles gut und richtig, aber irgendjemand musste auch die Spur des Lendentuchs verfolgen, das bei der letzten Leiche gefunden worden war, jemand anderes musste sich um das Fahrrad und die Silbergegenstände vom Tatort kümmern, irgendwer musste alle vier Tatorte triangulieren und analysieren, alle Sexualstraftäter ausfindig machen und ihr Alibi überprüfen, Anfragen an alle Polizeibehörden im Land starten, um herauszufinden, ob es anderswo ähnliche, ungelöste Mordfälle gab. Sie wussten von vier Opfern, aber es konnten ebenso vierzehn oder vierzig sein.
Achtzehn Detectives und sechs Constables arbeiteten derzeit an dem Fall, aber Lynley wusste, sie brauchten zweifellos mehr. Und es gab einen Weg, sie zu bekommen.
Sir David Hillier, dachte Lynley boshaft, würde diese Tatsache gleichzeitig lieben und hassen. Er würde wie ein Honigkuchenpferd strahlen, wenn er der Presse verkünden konnte, dass mehr als dreißig Polizeibeamte an dem Fall arbeiteten. Aber es würde ihn gleichzeitig auf die Palme bringen, die vielen Überstunden genehmigen zu müssen. Das war aber nun einmal Hilliers Los. Das waren die Schattenseiten des Ehrgeizes.
Am folgenden Nachmittag hatte Lynley von SO7 die vollständigen Autopsieberichte der ersten drei Opfer und den vorläufigen des zuletzt entdeckten Jungen in Händen. Er legte je einen Satz Fotos von allen vier Tatorten dazu und packte das gesamte Material in seinen Aktenkoffer. Dann ging er zu seinem Wagen und verließ die Victoria Street in einem leichten Nebel, der vom Fluss heraufgeweht wurde. Der Verkehr bewegte sich nur im Schneckentempo, doch als
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