13 - Wo kein Zeuge ist
Tür, ließ Lynley und Havers am Tisch zurück, die die Reste seiner Spaghetti Bolognese studierten wie Hohepriester auf der Suche nach einer Prophezeiung.
Schließlich sagte Havers: »Er hat sich nicht mal fürs Essen bedankt.« Sie ergriff seine Gabel und rollte zwei Spaghetti auf. Dann hob sie die Gabel auf Augenhöhe. »Aber die Leiche. Ich meine Kimmos Leiche. Keiner der Berichte sagt etwas über Geschlechtsverkehr vor dem Tod, oder?«
»Keiner«, stimmte Lynley zu.
»Was bedeuten könnte ...«
»Dass sein Tod nichts mit seinem Stricherdasein zu tun hatte. Es sei denn, das, was immer in jener Nacht passiert ist, ist vor dem Sex passiert.« Lynley schob seine noch fast volle Kaffeetasse zur Tischmitte.
»Aber wenn wir eliminieren müssen, dass Sex ein Bestandteil ...?«, fuhr Havers fort.
»Dann ist die Frage: Wie gut kommen Sie vor Sonnenaufgang aus den Federn?«
Sie schaute ihn an. »Bermondsey?«
»Ich würde sagen, das ist unsere nächste Station.« Lynley betrachtete sie, während sie sich das durch den Kopf gehen ließ, die Gabel immer noch in der Hand.
Zu guter Letzt nickte sie, aber sie wirkte nicht begeistert. »Ich hoffe, Sie haben die Absicht, mit von der Partie zu sein.«
»Ich würde schwerlich eine Dame des Nachts allein in South London herumziehen lassen«, antwortete Lynley.
»Das freut mich zu hören.«
»Schön, dass ich Sie beruhigen konnte. Havers, welche Absichten hegen Sie in Bezug auf diese Pasta?«
Sie sah ihn an, dann die Gabel, die immer noch in der Luft schwebte. »Die hier?«, fragte sie. Sie ließ die Spaghetti in ihrem Mund verschwinden und kaute versonnen. »Sie müssen noch dran arbeiten, sie ›al dente‹ hinzukriegen«, erklärte sie.
Jared Salvatore - das zweite Opfer ihres Mörders, den sie in Ermangelung eines anderen Namens »Roter Transit« zu nennen begonnen hatten - hatte in Peckham gewohnt, etwa acht Meilen Luftlinie entfernt von dem Ort in Bayswater, wo seine Leiche gefunden worden war. Da Filipe Salvatore im Pentonville-Gefängnis keine aktuelle Adresse der Familie hatte nennen können, begab Nkata sich zuerst zu ihrer letzten bekannten Anschrift - eine Wohnung in der Wildnis der North-Peckham-Siedlung. Dies war eine Gegend, wo niemand nach Einbruch der Dunkelheit unbewaffnet unterwegs war, wo Cops unwillkommen und die Bandenreviere genauestens abgesteckt waren. Ein schlimmeres Erscheinungsbild menschlichen Zusammenlebens war kaum vorstellbar: traurige Wäscheleinen auf Balkonen und an Regenrohren, verrottete Fahrräder ohne Reifen, angerostete Einkaufswagen und jeder nur erdenkliche Müll. North Peckham ließ Nkatas eigene Wohngegend im Vergleich dazu wie Utopia am Eröffnungstag erscheinen.
Bei der angegebenen Adresse traf er niemanden an. Er klopfte an die Türen von Nachbarn, die entweder nichts wussten oder nichts sagen wollten, bis er endlich jemanden fand, der ihm berichtete, dass »dieses cracksüchtige Flittchen und ihre Bälger« nach einer monumentalen Schlacht mit Navina Cryer und ihren Leuten, die allesamt aus der Clifton-Siedlung kamen, rausgeflogen war. Das war alles, was über die Familie Salvatore in Erfahrung zu bringen war. Doch zumindest hatte Nkata einen neuen Namen bekommen, den von Navina Cryer, also begab er sich als Nächstes zur Clifton-Siedlung, um sie ausfindig zu machen und zu hören, was sie über die Salvatores zu sagen hatte.
Navina erwies sich als sechzehnjähriges, hochschwangeres Mädchen. Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter, zwei jüngeren Schwestern und zwei Kleinkindern in Pampers. Im Verlauf seiner Unterhaltung mit dem Mädchen erfuhr Nkata nicht, zu wem die Kleinen gehörten. Im Gegensatz zu den Bewohnern von North Peckham war Navina nur allzu bereit, mit der Polizei zu sprechen. Eingehend studierte sie Nkatas Dienstausweis, noch eingehender Nkata selbst, ehe sie ihn in die Wohnung bat. Ihre Mutter war bei der Arbeit, erklärte sie, und die anderen - womit sie offenbar die übrigen Kinder meinte - konnten selbst auf sich aufpassen. Sie führte ihn in die Küche. Dort lagen mehrere Haufen Schmutzwäsche auf dem Tisch, und die Luft war geschwängert vom Geruch nach Wegwerfwindeln, die dringend weggeworfen werden mussten.
Navina entzündete eine Zigarette an einer Gasflamme des schmierigen Herdes, an den sie sich dann lehnte, statt sich an den Tisch zu setzen. Ihr Bauch ragte so weit vor, dass man sich fragte, wie sie aufrecht stehen konnte, und unter dem gespannten Stoff ihrer Leggings malten ihre Adern sich ab wie
Weitere Kostenlose Bücher