1300 - Die Templerin
ich, schüttelte aber zugleich den Kopf.
»Ich verstehe nur nicht, was Sie damit zu tun haben. Sie veranstalten so etwas wie eine Wallfahrt und…«
»Nein!«, unterbrach sie mich. »Es ist keine Wallfahrt. Es ist so etwas wie ein Kreuzzug mit ihr an der Spitze. Denn sie soll und sie wird uns führen.«
»Konstanza? Eine Tote?«
»So ist es.«
»Aber wie kann eine Tote…«
»Sie lebt. Sie ist nicht tot. Sie kann man nicht töten. Sie ist zu groß und gewaltig.« Rosanna trat noch näher an die Figur heran. Sie streckte sich und streichelte wenig später das Gesicht mit beiden Händen. Mich hatte sie vergessen. Die Figur schien plötzlich für sie zu einem Menschen geworden zu sein. Sie drängte sich noch näher heran und umarmte sie.
Für mich war es nicht zu begreifen. Nie wäre mir eingefallen, mich mit einer Steinfigur zu beschäftigen. Nur war in meinem Job das Unnormale schon normal, und ich dachte zudem auch daran, welches Gesicht ich da gesehen hatte.
Auf dem Gesicht die Fratze.
Baphomet!
Wenn ich die Zeichen richtig deutete, dann umarmte sie nicht nur die Frau als Figur, sondern auch Baphomet.
Okay. Mehr brauchte sie nicht zu tun, damit ich sie richtig einschätzen konnte. Sie gehörte zu ihm. Ebenso wie Konstanza zu ihm gehört hatte oder noch immer gehörte.
Leider verdeckte sie meinen Blick auf das Gesicht der Gestalt. So sah ich nicht, ob es sich veränderte oder blieb wie immer. Spürte Rosanna vielleicht Leben? Steckte irgendetwas in dieser Figur, das auch ich schon erlebt hatte? War sie jetzt bereit, auch eine Reise in die Vergangenheit anzutreten?
Ich hoffte es und wartete darauf. Als Beobachter hätte es mich interessiert, was wohl passiert. Ob sich der Körper auflöste oder ob die Reise nur in Gedanken stattfand.
Rosanna sprach. Was sie sagte, verstand ich leider nicht. Schon bei unserer Unterhaltung vorhin hatte ich meine Probleme gehabt, alles zu verstehen. Was jetzt flüsternd aus ihrem Mund drang, konnte ich von vornherein vergessen.
Rosanna trat zurück. So bekam ich den freien Blick auf das Bild, und ich sah auch die Fratze.
Nein, sie hatte sich nicht verändert. Es gab keine Veränderung.
Auch die Form war die gleiche geblieben, nur die Gesichtszüge der Frau hatten sich verhärtet. Sie sahen viel entschlossener aus, und dieser Ausdruck hatte sich auch in ihre Augen gelegt.
Auch schien Rosanna Kraft getankt zu haben, denn als sie mich ansprach, wirkte sie entschlossener als zuvor.
Ich gab mich trotzdem gelassen und fragte mit leiser Stimme:
»Hat sich etwas verändert?«
»Nein, warum sollte es?«
»Das will ich Ihnen sagen. Es ist nicht alltäglich, dass jemand hingeht und eine Figur umarmt.«
Rosanna lachte leise. Dann sagte sie: »Ja, es ist nicht alltäglich, aber sie ist auch etwas Besonderes. Ich habe die Figur umarmt, um Kraft zu bekommen. Sie gibt mir die Kraft. Sie hat die Zeiten überwunden. Sie war eine mächtige Person, und das wird sie auch immer bleiben, obwohl Hunderte von Jahren vergangen sind. Nicht alles, was vergangen ist, das ist auch vergessen und begraben.«
»Das kann ich nachvollziehen.«
»Nein, das können Sie nicht. Nicht in diesem Fall.« Sie deutete mit der Spitze des rechten Zeigefingers auf mich. »Aber das ist nicht Ihre Sache, Señor Sinclair. Es geht jetzt um andere Dinge, und die gehen nur uns Frauen etwas an.«
»Wenn das so ist…«
»Wandern Sie weiter, Señor. Der Weg führt in Richtung Westen. Und wenn Santiago de la Com…«
»Ich weiß nicht, ob ich es noch schaffe.«
»Warum nicht?«
»Die historischen Stätten am Rand der Route sind für mich ebenfalls interessant.«
»Haben Sie ein Auto?«
»Ich war so frei!«
»Dann nutzen Sie den Tag.«
Es waren hart gesprochene Abschiedsworte. Rosanna wollte nichts mehr von mir, und ich schaffte es auch nicht, sie aufzuhalten, denn sie ließ mich einfach stehen. Ich erlebte noch den Luftzug, als sie mich fast streifte, und später drehte sie sich nicht einmal zu mir um. Sie verschwand zwischen den alten Mauern. Ich blieb allein zurück und es kam mir vor, als hätte es sie nie gegeben…
***
Die Verfolgung aufzunehmen, verkniff ich mir. Ich wusste, wo ich Rosanna finden konnte. Coleda war zudem nicht so groß, ich würde sie überall finden, wenn es etwas zu fragen gab. Außerdem war sie nicht allein und hatte genug andere Frauen mitgebracht.
Für mich war Rosanna die Anführerin der Gruppe. Wobei ich selbst über diesen Begriff stolperte, denn als eine Gruppe wollte ich
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