1308 - Tödliche Schwingen
konnte es kaum begreifen. Vor ihr spielte sich ein unheimlicher Vorgang ab, den sie sich nicht erklären konnte.
Der Vogelmensch lag jetzt ruhig im Nest. Er hatte sich so klein wie möglich gemacht, und sie war auch in der Lage, seine Arme und ebenfalls die Beine zu sehen. Beides hatte das Federkleid verloren, und dann schaute sie tatsächlich wieder in das glatte Gesicht des Menschen, von dessen nacktem Körper auch der letzte Flaum verschwunden war.
Es gab den Adler nicht mehr.
Nur den Menschen Kurani, der sie mit seinen polierten Augen wieder scharf anschaute.
Sprechen konnte Maxine nicht. Sie wollte auch nicht näher nachdenken und nach irgendwelchen Lösungen suchen. Sie nahm alles so hin, wie es war, und ging davon aus, dass der andere irgendwann die Initiative übernehmen würde.
Das geschah auch.
Zuerst hörte sie die scharfen Atemzüge. Danach seine Stimme.
Nur verstand sie nicht, was sie sagte. Der oder die Sätze bestanden nur aus Fragmenten.
Er lachte.
Nein, es war ein Krächzen, aber trotzdem zugleich das Lachen des Königs der Lüfte.
Aus der Nähe erkannte sie, dass dieses Wesen keine Lippen besaß. In seinem Gesicht gab es nur die glatte Haut, die sich auch auf dem Kopf ausbreitete.
Und dann sprach er. Es war wieder die gleiche Stimme, die sie schon kannte. »Hast du die Zeit gut überstanden…?«
Maxine wollte eine Antwort geben, aber nicht die, die sich Kurani vorstellte.
»Was wollen Sie von mir? Was habe ich Ihnen getan? Warum haben Sie mich entführt?« Ihre Stimme klang so rau, dass sie sie kaum noch als die eigene erkannte.
Er grinste wieder. Die Haut um seinen Mund herum legte sich in Falten. »Es gibt noch den Rest zu erledigen. Diese Aufgabe habe ich mir vorgenommen.«
»Wieso einen Rest? Wovon?«
»Du weißt es!«
»Nein!«
»Ich habe fliehen können. Damals, als alles brannte. Ich war noch nicht fertig, aber im Laufe der Zeit habe ich mich und meine Kräfte sammeln können und bin fertig. So wie du mich siehst, bin ich perfekt.«
Er hatte etwas bekannt gegeben, und Maxine hatte begriffen.
Nicht nur ihre jetzige Ziehtochter Carlotta hatte die Vernichtung des Labors und der Experimentierstrecke überlebt, sondern auch diese Gestalt, die auf den Namen Kurani hörte.
Maxine konnte nicht genau beschreiben, welche Empfindungen sie durchschossen. Sie saß in diesem übergroßen Nest und schaute noch immer auf den Mann, aber auch andere Personen tauchten aus dem Nebel der Vergangenheit auf.
Sie sah die Gesichter des Professors und des Killers vor sich, die Kämpfe im Labor, die Flammen, das Ende, die Rettung von Carlotta, für die sich alles zum Guten gewendet hatte.
Und jetzt gab es noch ihn!
Den Perfekten. Der sich selbst perfekt gemacht hatte. Das war für sie ein Schock.
Sie schüttelte den Kopf. Kurani verstand die Bewegung falsch. Er begann mit einer Erklärung. »Doch«, sagte er, »es stimmt alles, was du siehst. Ich bin Mensch und Adler zugleich, denn ich habe die höchste Stufe erreicht. Und das ohne die Hilfe des Professors. Ich konnte fliehen und habe mich in der Natur versteckt. Ich habe in dieser Zeit gelernt, sie zu begreifen, denn wer es begreifen will, der muss eins mit ihr werden. Und so bin ich eins mit ihr geworden. Ich kann sie schmecken, ich kann sie fühlen, ich kann sie hören. Ich habe die fremden Gene in mir verstärkt und sie zur Perfektion gebracht, und ich habe mir letztendlich einen Traum erfüllt, von dem viele Menschen schwärmen. Ich bin zu einem Adler geworden. Ich bin der Raubvogel, der Jäger, der sich seine Beute holt.« Er breitete seine Arme aus, als wären es Schwingen, und Maxine verfolgte jede Bewegung mit ihren Blicken, während sie über die Worte nachdachte, die sie nicht so richtig glauben konnte, obwohl ihr schon das Gegenteil bewiesen worden war.
»Ein Adler?«, hauchte sie.
Kurani nickte. »Der König der Lüfte. So nennt man ihn. Einer, der keine natürlichen Feinde hat, abgesehen von Menschen, die ihn jagen. Aber ich habe bewiesen, dass der Adler schlauer ist, denn er ist wirklich der König. Er ist der Löwe der Lüfte.« Kurani deutete auf seine Augen. »Schau sie dir an.«
Maxine tat es. Ja, die Augen hatten sich nicht verändert. Es waren die des Vogels geblieben, und Kurani freute sich über den Blick der Tierärztin.
»Der Vogel sieht alles«, flüsterte er. »Sein Auge ist perfekt. Röhrenförmig angelegt, erlaubt es ihm, aus über hundert Metern Höhe auch die kleinsten Bewegungen am Boden wahrzunehmen. Ob
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