1308 - Tödliche Schwingen
hatte er noch etwas gesagt.
»Es ist noch nicht beendet!«
Genau dieser Satz war ihr nachgegangen. Das konnte nur bedeuten, dass sie der Anfang gewesen war. Aber wie ging es weiter?
Was wollte er noch? Lange brauchte Maxine nicht zu überlegen, denn es fiel ihr ein Name ein.
Carlotta!
Sie war das Vogelmädchen. Sie war ein genmanipuliertes Geschöpf und besaß die Gabe zu fliegen.
Sie war zwar nicht mit Kurani direkt zu vergleichen, aber irgendwie gab es zwischen ihnen auch eine Ähnlichkeit. Wahrscheinlich war Kurani darauf erpicht, sie ebenfalls in seine Gewalt zu bekommen.
Mit diesem Thema beschäftigte sich Maxine Wells gedanklich. Sie sprach es nicht aus, um Kurani nicht misstrauisch zu machen. Er sollte glauben, dass sie nichts wusste und nur das ängstliche Opfer war.
Er hatte ihr bei seinem Besuch Wasser mitgebracht, aber nichts zu essen. Das sah Maxine als nicht tragisch an, denn wichtig war die Flüssigkeit und nicht die feste Nahrung.
Dann war er wieder verschwunden. Er hatte sich einfach über den Rand des Horstes hinweg nach unten fallen lassen. Die Hoffnung, dass er mit seinem menschlichen Körper in der Tiefe aufschlug, erfüllte sich für Maxine leider nicht. Denn auf der Hälfte der Strecke sah sie einen anderen Körper, eine andere Gestalt, einen Vogel, der mit ausgebreiteten Schwingen durch die Luft glitt.
Sie blieb allein zurück. Allein sein machte ihr nichts aus. Nur nicht an einem derartigen Platz, hoch über dem Boden und wie angeklebt an einer Felswand.
Hier war sie den Kräften der Natur ausgesetzt, den Winden, der Kälte, aber auch der Sonne und dem Regen. Zwar lag der Himmel fast wolkenlos über ihr, es fiel kein Wasser auf die Erde, doch der Wind pfiff auf sie nieder, als wollte er sie ständig angreifen, und er wechselte dabei auch seine Richtungen. Manchmal heulte er über den Felsen hinweg, fing sich in irgendwelchen Spalten oder jaulte an den Vorsprüngen entlang.
Immer wieder musste sich Maxine tief in das Nest ducken, um wenigstens etwas Wärme zu erhalten. Wenn sie diese Lage einnahm, wehte der größte Teil des Windes über sie hinweg. Dann nahm sie den Geruch des Strohs wahr und auch den des nahen Felsgesteins. Das Material war im Laufe der langen Zeit durch die Witterung blank gescheuert worden. Es gab kleine Risse, in denen sich das Moos wohlfühlte. An einigen geschützten Stellen blühte es sogar hell.
Maxine Wells zwang sich zu einem normalen Denken. Es hatte wirklich keinen Sinn, jetzt in Panik zu verfallen. Sie musste die Nerven bewahren und durfte sich nicht von Gefühlen leiten lassen.
Ein Teil ihrer Angst verschwand. Zudem war dieser Kurani noch nicht zurückgekehrt, und so hatte sie Zeit, über sich nachzudenken.
Der Mann oder die Mutation hätte sie töten können. Es war nicht geschehen. Daraus folgerte sie, dass man sie noch brauchte. Aber für was? Nach einigem Überlegen kam sie zu dem Schluss, dass sie möglicherweise nicht das eigentliche Ziel war, sondern Carlotta, das Vogelmädchen. Sie und Kurani besaßen gewisse Ähnlichkeiten, auch wenn sie bei der vollständigen Mutation perfektioniert waren.
Aber Carlotta gab es auch, und es war möglich, dass Kurani sie übernehmen wollte, und da sah sich Maxine als perfektes Druckmittel.
Außerdem wollte sie feststellen, wohin man sie geschafft hatte.
Sie kannte die Gegend um Dundee herum. Sie war oft genug durch die Berge gewandert, denn in den Bergen hatte damals auch ihre Schwester gelebt und sich mit den Ratten verbündet.
Die Felsen lagen nordwestlich von Dundee. Sie waren ein Paradies für Vögel, die hier nisteten, auch für Adler, und deshalb hatte man ihnen den Namen Eagle Rock gegeben.
Sie konnte wieder lächeln und freute sich über den kleinen Erfolg, den sie errungen hatte. Sie wusste jetzt, wo sie war, aber das brachte Maxine auch nicht weiter, denn aus eigener Kraft konnte sie sich unmöglich befreien.
Kurani kehrte in keiner seiner Gestalten zu ihr zurück. Dafür sah sie die anderen Vögel. Sie hörte sie schreien.
Sie beobachtete ihren Flug, und sie stellte fest, dass die Tiere auch sie in ihrem Nest entdeckt hatten. Aber kein Vogel traute sich in die Nähe. Selbst die größeren nicht, die Sperber und Falken. Sie umflogen das Nest des Adlers, denn er war der König der Lüfte, und vor ihm musste man Respekt haben.
So blieb der Tierärztin nichts anderes übrig, als im Nest zu hocken und zu warten.
Worauf?
Auf ein Wunder?
Maxine gehörte nicht zu den Menschen, die an Wunder
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