1311 - Die Teufelszunge
Vorgang als unerklärlich und zugleich als unheimlich bezeichnen.
Niemand schrie. Keiner stand auf. Die Besucher saßen wie gebannt auf ihren Plätzen, und ich gehörte ebenfalls dazu. Nur Bill Conolly gab einen Kommentar ab.
»Schon wieder«, hauchte er, »ich habe es gewusst. Es ist schon wieder etwas passiert…«
Man konnte es sehen, wie man es wollte, aber er hatte Recht. Was da ablief, das war normal nicht zu begreifen. Dafür gab es keine Erklärung. Die Person hatte sich materialisiert. Sie war nicht normal gekommen und nicht vom Hintergrund aus in den Vordergrund getreten. Ich hatte kurz die Veränderung in der Luft gesehen, und dann war sie plötzlich da gewesen.
Fast nackt…
Aber auf eine gewisse Art und Weise sehr schön. Nicht provozierend, nicht anmachend. Wenn ich einen Vergleich bringen sollte, dann fiel mir nur eine ätherische und irgendwie auch porzellanartige Schönheit ein. Weil sie so zerbrechlich wirkte.
Glenda fand einen anderen Vergleich, als sie mit leiser Stimme sagte: »Wie ein Blumenkind…«
Ja, das war es wohl. Ein Blumenkind. Ein junger Mensch aus der Zeit der Hippie-Bewegung. Das Haar wurde von roten Strähnen durchflossen und wirkte deshalb mehr rötlich als schwarz. An beiden Seiten fiel es durch den Mittelscheitel sogar hinab bis zu den Brüsten. Auf der Stirn malte sich ein Band ab, das dunkler war als das rote Haar. Sie sah aus wie eine traurige Puppe, die sich verlaufen hatte, und auch die Farbe der Haut erinnerte daran.
»Aber wo kommt sie her?«, flüsterte Glenda mir zu.
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist ein Phänomen.«
»Ob sie zuhören will?«, fragte Bill.
»Möglich.«
»Sie muss ihn durcheinander gebracht haben«, flüsterte Glenda.
»Sie ist der Grund für Shols’ ungewöhnliches Verhalten. Ich glaube, John, wir sollten eingreifen.«
»Nein, noch nicht. Wir haben damit nichts zu tun. Ich denke, dass sie etwas mit dem Musiker vorhat.«
»Kann auch sein«, meinte Bill.
Von uns bewegte sich niemand. Ich warf nur einen Blick in die Richtung, wo Shols’ Ehefrau ihren Platz gefunden hatte. Ihr Verhalten interessierte mich besonders. Noch konnte ich keine Reaktion bei ihr entdecken. Sie war ebenso überrascht wie die übrigen Besucher.
Eine Gefahr oder eine direkte Bedrohung sah ich noch nicht.
Deshalb dachte ich auch nicht daran, einzugreifen. Ich wollte zunächst mal abwarten, was weiterhin geschah. Ob sie stehen blieb und nur zuhören wollte oder ob sie etwas anderes vorhatte.
Nein, sie blieb nicht stehen. Sie ging schwebend auf die Treppe zu, und wir vernahmen keine Geräusche. Sie bewegte sich so leichtfüßig direkt auf das Podium zu, wo Walter Shols saß, seine Trompete sinken gelassen hatte und sie erwartete.
Kannte er sie?
Das war nicht herauszufinden. Jedenfalls zeigte er sich nicht verängstigt. Er veränderte auch seine Haltung nicht. Er war einfach nur gespannt.
Stufe für Stufe nahm sie, und abermals hörten wir nicht das geringste Geräusch.
Vor dem Podium blieb sie stehen.
Walter Shols nickte ihr zu. Er wirkte auf mich wie ein Mann, der unter einem großen Druck stand. Um ihn anzuschauen, musste die Unbekannte den Kopf etwas zurücklegen, und wenn mich nicht alles täuschte, dann sah ich jetzt ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie strahlte den Musiker an, der ihr seine Hand entgegenstreckte, um sie direkt zu sich zu holen. Er wollte sie demnach in seiner unmittelbaren Nähe haben.
Gern ließ sich die Unbekannte hochführen. Auch jetzt kam sie mir körperlos vor, fast wie eine esoterische Erscheinung.
»Wer ist sie?«, flüsterte Bill.
»Keine Ahnung.«
»Sie sieht aus wie ein Mensch«, sagte Glenda leise. »Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie das nicht ist. Sie muss etwas anderes sein. Ich könnte mir vorstellen, dass sie aus einer anderen Welt gekommen ist. Dass die Musik sie gelockt hat. Oder?«
»Kann sein.«
Beide so unterschiedliche Personen hielten das Podium besetzt.
Shols hatte sich erhoben. Wer gedacht hätte, er würde sich um die Nackte kümmern, der irrte sich, denn der Mann drehte sich mit einer etwas schwerfälligen Bewegung halb herum, damit er jetzt wieder ins Publikum schauen konnte.
Es war ihm anzusehen, dass er mit einer Rede beginnen wollte, doch er musste sich erst sammeln, um die richtigen Worte zu finden. Er schaute auch nicht direkt eine Person unter den Gästen an, sondern ließ seinen Blick in den Raum hineingleiten. Da er im Licht des Scheinwerfers stand, würde er nicht zu viel erkennen können,
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