1311 - Die Teufelszunge
gespannt auf das Podium, aber es waren jetzt andere Blicke als vor Minuten noch.
Ängstlich? Erwartungsvoll?
Da konnte beides zutreffen. Ja, es musste so sein. Die Lockerheit war endgültig verschwunden. Er saß wie auf heißen Kohlen, und vermutlich rann ihm mancher Schauer über den Rücken.
Plötzlich stand eine Frau auf. Sie ging mit schnellen Schritten zum Podium. Im Licht der Lampen war sie deutlich zu sehen.
Elegant gekleidet, schwarzes Haar, das ihren Kopf umgab, den sie jetzt senkte, um mit dem Musiker zu sprechen.
Wieder hörte ich die Männer hinter mir sprechen. Sie kannten sich aus, denn einer sagte mit leiser Stimme: »Das ist Charlotte, seine Frau. Die hat auch was bemerkt. Sie will ihn aufmuntern.«
»Er sollte eine Pause machen.«
»Mal sehen, was passiert.«
Zunächst nicht viel. Das Ehepaar sprach noch immer miteinander. Niemand aus dem Publikum verstand, was sie sich gegenseitig zuflüsterten. Walter Shols hielt den Kopf gesenkt, hörte nur zu, nickte hin und wieder und hob auch die Schultern.
Ich wäre gern hingegangen, um zu fragen, was sich zwischen den beiden abspielte. Das unbestimmte Gefühl war in mir noch nicht verschwunden. Es konnte sein, dass sich einiges tun würde und der Abend nicht so verlief wie ich es mir vorgestellt hatte.
Die Frau strich mit einer letzten Bewegung über den Kopf ihres Mannes. Es sah aus, als wollte sie das Podium verlassen, aber sie überlegte es sich und blieb an dessen Rand stehen. Den Blick richtete sie dabei ins Publikum.
»Verehrte Besucher«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich möchte Sie bitten, die kleine Unterbrechung zu entschuldigen. Meinem Mann ging es nicht so gut. Es mag an der Luft liegen, aber es ist kein Grund für ihn, seinen Auftritt abzubrechen. Wir werden ihn weiter hören. Nur ist es möglich, dass er das Programm ändern wird. Was sie dann geboten bekommen, werden neue Kompositionen sein. Sie werden eine Premiere erleben. Danke.«
Einige Besucher klatschten, als die Frau wieder zu ihrem Platz zurückging.
»Ist schon komisch«, meinte Bill. Er drehte sich so, dass er uns anschauen konnte.
»Was meinst du?«
»Sein Verhalten.«
»Finde ich auch«, flüsterte Glenda.
Ich hielt mich aus dem Gespräch heraus, denn ich wollte nicht die Pferde scheu machen. Bill sollte nicht merken, dass auch ich mir Gedanken machte, und den Begriff »Teufelszunge« brachte ich erst gar nicht ins Gespräch.
Walter Shols saß noch immer auf seinem Stuhl. Auf mich wirkte er sehr nachdenklich. Er schien sich noch nicht im Klaren darüber zu sein, wie es weiterging. Schließlich hob er sein Instrument wieder an, und die Bewegung wirkte auf mich eher verhalten und nicht wie die eines Mannes, der sich entschlossen hat, sein Spiel so fortzuführen wie er es begonnen hatte.
Dann stand er auf.
Auch das wirkte schwerfällig. Gleichzeitig kam er mir leicht verunsichert vor. Er schaute in die Runde, drehte sich dabei und hielt den Blick gegen die breitere Treppe gerichtet, über die er auch gekommen war. Wer ihn so sah, musste das Gefühl haben, dass er auf etwas wartete, aber er setzte sein Spiel fort.
Wieder war es eine schöne, aber auch traurige Melodie. Sein Instrument jubelte nicht. Geigen können schluchzen. Nun kam es mir vor, als wäre seine Trompete dabei, es auch zu tun.
Er schaute nicht hinein in das Publikum. Seine Konzentration galt der gegenüberliegenen Seite. Er blies praktisch die Treppe an, und genau dort passierte etwas.
Eine Bewegung!
Nicht auf der Treppe, sondern an deren hinteren Ende. Dort befand sich die Wand, die auch angestrahlt wurde. Ich sah das Blitzen der noch angebrachten alten Apparate, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Viel wichtiger war etwas anderes, und genau dieser Vorgang hinterließ nicht nur bei mir große Augen.
Eine Gestalt erschien dort. Das wäre normal gewesen, wenn sie auch normal gekommen wäre. Leider oder ungewöhnlicherweise war das nicht der Fall. Diese Frauengestalt erschien nicht normal.
Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte nur den Kopf geschüttelt, denn sie schaffte es tatsächlich, sich zu materialisieren. Sie entstand aus dem Nichts. Sie ging, aber sie schwebte auch, und jeder der sie sah erkannte, dass sie bis auf einen kleinen Fetzen Stoff zwischen den Beinen nichts am Körper trug…
***
Es war ein Schock, und das wohl für jeden. Aber kein Schock, der durch ein grauenhaftes Ereignis ausgelöst worden wäre. Man konnte den
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