1311 - Die Teufelszunge
empfand, das traf auf mich nicht zu. Ich wollte mich von den Melodien nicht einlullen lassen. Ich dachte auch daran, dass der Künstler Teufelszunge genannt wurde. Gerade der erste Teil des Wortes gefiel mir überhaupt nicht. Der brachte gewisse Assoziationen mit, die ich auf keinen Fall unterschreiben konnte. Ich kannte meinen Todfeind. Es war ein Trickser, ein Betrüger, einer, der die Menschen einlullte.
Der immer wieder auf neuen Wegen versuchte, Einfluss auf den Lauf der Welt zu nehmen. Und deshalb gehörte er zu meinen Todfeinden. Sich selbst drückte er selten in den Vordergrund. Er blieb lieber versteckt, doch es gab genügend Vasallen, die auf seiner Seite standen und ihm zu Diensten waren.
Die Teufelszunge auch?
Es konnte sein. Die Beweise fehlten mir noch. Aber welche Aufgabe hatte Marisa übernommen? Wer war sie? Gehörte sie zu ihm?
Wer sie ansah, konnte es sich nicht vorstellen. Sie wirkte trotz ihrer Nacktheit so brav und ätherisch, aber der Teufel war jemand, der in den verschiedendsten Verkleidungen auftrat und oft hinter Menschen steckte, bei denen es keiner vermutete.
Sie tat nichts. Sie wartete, sie schaute zu. Walter Shols spielte. Er saß auf seinem Sessel mit dem roten Stoff, und er wirkte wie ein Automat. Er spielte immer weiter, obwohl er meinem Geschmack nach schon längst eine Pause hätte einlegen müssen.
Ob sich die anderen Gäste jetzt noch stärker im Bann dieser Melodien befanden, interessierte mich nicht. Ich wollte meine Sache durchziehen, solange sich die Umgebung noch nicht so stark verändert hatte.
Deshalb stand ich auf.
Es war schwer. Ich hätte beinahe gelacht. Ich kämpfte mit den Problemen. Ich musste mich langsam in die Höhe schieben und wollte den Tisch auf keinen Fall als Stütze benutzen.
Die Melodien waren in meinem Kopf. Ich konnte ihnen einfach nicht entgehen und hatte das Gefühl, von der Musik zurückgehalten zu werden. Etwas drückte gegen mich. Als der Schwindel kam, geriet ich in einen leichten Taumel, schaffte es jedoch, auf den Beinen zu bleiben, ohne wegzuknicken.
Ich hob den Kopf an.
Für einen Moment bewegte sich das Bild auf dem Podium. Es flirrte vor meinen Augen, und ich hatte große Mühe, wieder zurück zu mir zu finden.
Danach ging es mir besser. Zumindest sah ich wieder alles klar.
Den Künstler, dessen Frau und natürlich Marisa, die nur den Künstler anschaute und sich nicht dafür interessierte, was im Publikum vorging.
Genau das passte mir. Und so nahm ich die Chance wahr und machte mich auf den Weg…
***
»Jetzt spielt er wieder«, flüsterte Hank Gray.
Klaus, der Knipser, nickte. »Ja, das höre ich.« Seine Stimme klang angespannt, obwohl es völlig normal war, dass Walter Shols seine Trompete zum Klingen brachte.
Klaus hatte trotzdem seine Probleme. Die Technik verließ ihn nicht. Sie hatte ihn noch nie verlassen, und auf den beiden Fotos hätten drei Personen zu sehen sein müssen.
Es waren nur zwei gewesen. Die Nackte fehlte auf den Bildern und auch auf dem im Monitor.
Das begriff er nicht. Das wollte nicht in seinen Kopf hinein. Er atmete schwer. Die Lippen hatte er zusammengepresst. Irgendwas hatte die Normalität verlassen. Es gab ein Ereignis, mit dem er nicht zu Rande kam.
Und es war ein Gefühl in ihm hochgekrochen, das er eigentlich nicht kannte, wenn er seinem Beruf nachging.
Unsicherheit! Nein, schon mehr. Er spürte eine gewisse Angst, die ihm zugleich eine Warnung aufdrängte, nur ja vorsichtig zu sein.
»Willst du nicht gehen?«
Klaus nickte. »Ja, das hatte ich vor.«
»Es ist alles normal und…«
»Das weiß ich eben nicht.«
»Aber er spielt doch.«
»Ich denke an die Fotos.«
Hank Gray winkte ab. »Das musst du nicht. Das ist bestimmt ein technischer Fehler gewesen.«
Der Fotograf hätte das auf keinen Fall unterschrieben. Zugleich dachte er auch daran, dass einmal keinmal ist, und so nahm er seinen Mut zusammen und startete einen zweiten Versuch.
Wie groß die Tür auch war, sie ließ sich mühelos öffnen. Sie quietschte oder knarrte nicht mal in den Angeln.
Klaus, der Knipser, warf einen ersten Blick in den Saal. So viel er erkannte, hatte sich nichts verändert.
Die Tische standen noch immer am gleichen Platz. Auch die Menschen hatten sich nicht von ihnen wegbewegt. Sie saßen daran, den Blick auf die kleine runde Bühne gerichtet, und hörten den Melodien zu.
Ja, sie hörten zu, und dennoch war einiges anders. Das sah ein Beobachter allerdings erst auf den zweiten oder dritten Blick.
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