1311 - Die Teufelszunge
dem Podium, da…«
»Ich weiß selbst, was dort ist. Aber was ich sehe, das stimmt auch. Ich habe ein Skelett fotografiert…«
Beide waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie von dem Gespräch auf dem Podium nichts mitbekamen. Sie fühlten sich der Wirklichkeit entrissen. Es war keinem von ihnen möglich, eine Erklärung abzugeben, und auf Hilfe konnten sie auch nicht zählen.
»Was willst du denn jetzt machen?«
Der Fotograf dachte nach. Er wusste es nicht. Verschiedene Gedanken huschten durch seinen Kopf. Wenn er loslief und seine Entdeckungen den Kollegen der Zeitungen anbot, dann würde man ihm nicht glauben. Das hier war nichts für die Masse. Das ließ sich nicht erklären. Das war einfach zu unwahrscheinlich. Es würde zuerst Angst machen, dann aber würden die Menschen darüber lachen, weil sie es einfach nicht glaubten. Denn das hier war kein Film. Das stellte alles auf den Kopf, was er bisher erlebt hatte. Er hatte sich immer für einen abgebrühten Typen gehalten, den auch schlimme Bilder nicht erschüttern konnten, doch diese Wahrheit war einfach zu unwahrscheinlich, als dass sie hätte verstanden werden können. Klaus sah keine logische Verbindung zwischen den Dingen, und jetzt fragte er sich, ob er hier mit Logik überhaupt weiterkam.
»Bist du zu einem Entschluss gekommen?«, fragte Hank raunend, der sich über sich selbst wunderte, weil er so cool blieb und nicht schreiend wegrannte.
»Ja, das bin ich.«
»Sag es!«
Der Fotograf gab noch keine Antwort. Er musste nachdenken.
Einen Plan hatte er schon. Dazu gehörte es aber, über den eigenen Schatten zu springen, was nicht leicht war. Was auch immer hier vorging, er wollte jedenfalls mehr wissen, auch wenn die Logik dabei auf der Strecke blieb. Es musste einfach eine Erklärung geben.
»Sag doch was, verdammt!«
»Ich gehe hin.«
»Zu ihr?«
»Wohin sonst?«
»Und dann?«
»Wird sich der Rest schon zeigen.«
»O verdammt, o verdammt. Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Du kannst nur verlieren.«
»Ich will aber gewinnen!«
»Dann geh! Ich aber nicht. Ich bleibe hier. Das tue ich mir nicht an, nein, nein…«
Der Fotograf achtete nicht mehr auf die Einwände. Er stand wieder auf. Abermals stellte er fest, dass er sich nicht mehr so glatt bewegen konnte wie sonst. Er lief langsam, aber auf dem direkten Weg zu seinem Ziel hin und hörte, als er näher kam, dass sich der Künstler und die Fremde unterhielten.
Und wieder wollte Klaus, der Knipser, etwas nicht glauben. Auf seinem kleinen Monitor war die Person als Skelett zu sehen. Da konnte er ein Bild nach dem anderen abrufen, das Motiv blieb immer das Gleiche. Wenn er jedoch zum Podium schaute, wirkte sie mehr wie ein Engel, der vom Himmel gefallen und auf dem falschen Platz gelandet war.
Er wusste nicht, ob er noch weitere Aufnahmen schießen sollte oder nicht. Er entschied sich dagegen. Die Beweise reichten ihm aus. Jetzt war es wichtig, mit der Person in einen näheren Kontakt zukommen. Das heißt, er wollte ein paar Sätze mit ihr reden. Möglicherweise konnte er ihr einige Wahrheiten entlocken, die dann auch für die Zeitungen relevant waren, sodass man sie den Lesern präsentieren konnte.
Klaus wusste nicht, ob er sich auf die Nackte oder die Umgebung konzentrieren sollte. Es war alles so anders geworden. Okay, die Menschen saßen noch immer bewegungslos auf ihren Stühlen.
Keiner griff zum Glas, alle starrten nur nach vorn, als warteten sie darauf, dass Walter Shols wieder zu seinem Instrument griff und spielte.
Den Gefallen tat er ihnen nicht. Er war in etwas anderes hineingeraten, und der Fotograf hörte seine Frage.
»Wo ist deine Welt?«
Klaus war irritiert. Er runzelte die Stirn. Die Antwort bekam er nicht mit, weil er bereits in die Nähe des Scheinwerfers geschlichen war. Er hatte einen kleinen Bogen geschlagen. So war er nicht direkt in das Blickfeld der Frau gelangt.
Er fragte sich, wer der blonde Mann auf dem Boden war. Gesehen hatte er ihn noch nie. Oder doch?
Irgendwo kam er ihm schon bekannt vor. Er sah nur die linke Profilseite von ihm. Zu den Promis gehörte er jedenfalls nicht und…
Ein Schrei!
Gellend und mörderisch!
Der Fotograf fuhr zusammen, wie von der berühmten Tarantel gebissen. Er schaute nicht mehr auf die Nackte, sondern nur auf den Trompeter, der vor seinem Sessel stand und nur noch schrie…
***
Für Walter Shols waren es die grausamsten und höllischsten Minuten in seinem bisherigen Leben. So etwas hätte er sich nicht
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