1313 - Der falsche Engel
Schon immer hat sie Engel gemocht. Egal, ob sie kitschig waren oder von irgendwelchen Künstlern modern gemalt oder gestaltet wurden. Die Engel waren ihre Freunde, und sie haben für ihren Tod gesorgt…«
Ich ließ Lorna sprechen. Es musste so sein. Es war der Abschied von ihrer geliebten Schwester. Das musste sie sich einfach von der Seele reden.
Und wieder holte sie Luft. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten.
»Aber keiner hat dir gesagt, wie grausam die Engel sein können!«, schrie sie in die Laube hinein. »Dass sie nicht die freundlichen Wesen sind, die du immer so verehrt hast. Sie sind schlimm, sie sind böse, sie sind keine Freunde der Menschen. Du hast dich vertan, du hast dich tödlich geirrt, und ich konnte dir nicht helfen, weil du dir nicht hast helfen lassen wollen. So ist es doch gewesen, verflucht nochmal! Und das hasse ich. Ich hasse mich dafür, denn dich kann ich nicht hassen. Ich kann nicht mal Abschied nehmen von dir. Ich kann dich nicht streicheln, ich kann dir nicht die Augen zudrücken, nichts kann ich. Ich habe versagt, und mit dir ist auch ein Teil von mir gestorben. Das im Dunkeln lauernde Böse hat gewonnen. Es hatte sich nur verkleidet und dich mit in den tödlichen Strudel hineingerissen. So und nicht anders muss es gesehen werden…«
Es war vorbei. Lorna konnte nicht mehr sprechen. Die lange Rede hatte sie angestrengt. Sie verschluckte sich beim Luftholen, dann sackte ihr Kopf nach vorn, und erst jetzt strömten die Tränen aus ihren Augen. So würde sie sich Erleichterung verschaffen, was ich zumindest hoffte.
Ich kam mir überflüssig vor. Ich ließ sie allein und ging zur Tür.
Es war besser so. Ich blieb vor der Tür stehen, schaute in die Dunkelheit über der Gartenanlage und hing dabei meinen Gedanken nach.
Musste ich mir Vorwürfe machen? Hatte ich falsch reagiert? Hätte ich das Kreuz nicht einsetzen sollen?
Ich bestürmte mich selbst mit zahlreichen Fragen, ohne eine konkrete Antwort geben zu können. Wahrscheinlich hätte ich nicht so reagiert, wäre Harriet normal auf dem Boden liegen geblieben.
Aber nein, ihr Körper war in die Höhe geschwebt. Er hatte der Gravitation getrotzt. Genau das war mein Problem gewesen. Da hatte die Magie oder welch eine Kraft auch immer der Physik nicht nur getrotzt. Sie hatte sie sogar überwinden können.
Aus eigenem Antrieb war es der Toten sicherlich nicht gelungen.
Für mich stand fest, dass sie aus der Ferne einen Befehl bekommen hatte. Irgendeinen magischen Impuls.
Ein Name kristallisierte sich hervor.
Lucio!
Ohne einen eindeutigen Beweis zu haben, wusste ich, dass er im Hintergrund die Fäden zog. Bill Conolly hatte mir über ihn einiges berichtet, und so stand er als Nächster auf meiner Liste.
Wäre Lorna nicht bei mir gewesen, hätte ich mich längst auf den Weg gemacht. Ich konnte sie jedoch unmöglich in ihrem Zustand allein lassen. Mein Verantwortungsgefühl ihr gegenüber war stärker geworden. Ich musste sie mit einbeziehen.
Perfekt wäre es gewesen, hätte ich meinen Rover in der Nähe gehabt. Da musste ich leider passen. Da ich auch nicht fliegen konnte, blieb uns nur der Ausweg, ein Taxi zu besorgen. Wobei noch fraglich war, ob sich Lorna überhaupt in der Lage fühlte, weiterhin an meiner Seite zu bleiben. Sie würde es mir sagen.
Ich wollte wieder in die Laube hineingehen, als mir Lorna entgegenkam. Sie hatte ihren Abschied beendet. Wie ein normaler Mensch ging sie nicht. Sie schwankte bei jedem Schritt und blieb auf der Türschwelle stehen. Sie sah mich, blieb aber stumm. Ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen. Die Lippen zuckten, und ihr Blick war irgendwie gläsern und ins Leere gerichtet.
»Es muss weitergehen, nicht wahr, John?«
»So sehe ich das auch.«
»Und wie geht es weiter?«
»Das kann ich Ihnen nicht im Detail sagen und…«
»Lucio!«, stieß sie hervor. Dabei war der Hass in ihrer Stimme nicht zu überhören.
»Er ist Dreh- und Angelpunkt.«
»Sie wollen also zu ihm?«
»Sicher!«
»Ich will es auch!«
Sie hatte mir nicht genau gesagt, was sie wollte. Aus ihren Worten hörte ich es hervor. Sie wollte sich rächen. Sie konnte es nicht hinnehmen, dass diese Person ihre Zwillingsschwester letztendlich getötet hatte. Hätte Lucio jetzt vor ihr gestanden, sie hätte vielleicht versucht, ihn mit den eigenen Händen zu ermorden.
Ich ließ mir mit meiner Antwort bewusst Zeit und sagte dann:
»Auch ich habe in meinem Leben schon schwere Verluste erlitten, Lorna, und kann verstehen,
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